Corona-Gesellschaft / Jung und vulnerabel: Eine 31-jährige Luxemburgerin fühlt sich seit März im Abseits
Nicht jede vulnerable Person ist über 50 Jahre alt. Es gibt auch junge Menschen, die aufgrund einer Vorerkrankung als Risikopatienten gelten. Sie sind seit dem Ende des Lockdowns in Vergessenheit geraten.
Claire* ist 31 Jahre alt und hat ihre Wohnung seit dem 13. März kaum verlassen. Sie ist jung, aktiv und wirkt kerngesund – trotzdem zählt sie aufgrund einer Erkrankung zu den sogenannten vulnerablen Personen. Seit der Lockdown aufgehoben wurde, fühlt sie sich vergessen. Als würde das Leben an ihr vorbeiziehen. Ihre Freunde treffen sich, gehen zusammen essen, feiern Geburtstage – Claire bleibt zu Hause. „Inzwischen fragen die meisten schon gar nicht mehr, ob ich mitkommen will. Sie wissen, dass ich Nein sage“, so Claire. Sie hat das Gefühl, den Anschluss zu verlieren.
Seit sie ein Kind ist, lebt Claire mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung und hat dadurch in verschiedenen Bereichen Probleme. Sie ist es gewohnt, dass sie manchmal in ihrem Leben eingeschränkt ist und aufpassen muss. Bisher hat das die 31-Jährige in ihrem Alltag jedoch nie weiter gestört. Nur Sport fällt ihr schwer, ansonsten hat ihre Krankheit keinen Einfluss auf ihr Leben. Das ist seit dem 13. März 2020 anders.
„Es gibt da diese riesige Unbekannte. Niemand weiß, was passiert, wenn man sich mit dem Virus infiziert“, sagt sie. Die Meinungen darüber, wie sie am besten mit der Situation umgehen soll, gehen auseinander. Ärzte aus ihrem Umfeld kommen unter dem Strich alle zu einer Schlussfolgerung: „Pass einfach auf – mehr als die anderen.“ Das tut Claire. Sie kennt auch Menschen, die normal weiterleben, obwohl sie gesundheitlicher abgeschlagen sind. Jeder müsse eben für sich wissen, wie viel Risiko er eingehen möchte.
Die große Unbekannte
Sie versucht, das Risiko für sich so gering wie möglich zu halten. „Ich habe schon immer auf meine Gesundheit geachtet und tue das seit der Krise umso mehr“, sagt sie. Denn jeder Mensch habe nur eine Gesundheit – und manche haben ein Leben lang mit den Folgen zu kämpfen. Das unterschätzen ihrer Meinung nach viel zu viele.
Als der Lockdown angekündigt wurde, war das auch für Claire zuerst einmal ein Schock. „Danach war es eben so – es war für jeden gleich und dadurch relativ einfach zu ertragen“, sagt sie. Als es dann plötzlich nicht mehr hieß „Bleift doheem“, macht sich in der jungen Frau Panik breit. Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Die Welle, von der beim Virus gesprochen wird, fühlt sie seitdem auch in ihrem Innern: „Es ist ein Auf und Ab.“ An manchen Tagen schafft sie es, sich mit der Situation abzufinden, an anderen zieht es sie besonders runter, dass das Leben an ihr vorbeizieht.
Die letzten Empfehlungen, die das Gesundheitsministerium für vulnerable Personen herausgegeben hat, sind noch immer die gleichen wie im März. Zu Hause bleiben, Lebensmittel bestellen, auf die Hygienemaßnahmen achten und nur einkaufen gehen, wenn möglichst wenige Menschen unterwegs sind. Das bringt für den Single gleich mehrere Hürden mit sich: „Alleine muss ich zum Teil für 50 Euro bestellen, sonst muss ich draufzahlen“, sagt sie. Und jetzt, da viele Menschen wieder einkaufen gehen wie früher, sei es umso schwerer, eine Zeitspanne zu finden, in der wenig los ist – und in der Claire nicht arbeiten muss. Ihr fehlen extra eingerichtete Zeiten, wie es sie während des Lockdowns mancherorts gab, in denen sie sich beim Einkaufen sicher fühlen kann. Das tut sie jetzt jedenfalls nicht. „Ich traue mich inzwischen alle zwei Wochen in den Supermarkt“, sagt sie. Es sei für sie quasi „das Event“ – und trotzdem ist ihr dabei immer mulmig zumute. Überall seien Menschen, die gar keine Maske tragen – oder sie tragen sie nur halbherzig. Das macht Claire wütend.
Happy Diwwi
„Vor Corona haben wir in Luxemburg alle im Happy-Diwwi-Land gelebt“, sagt sie. Die Luxemburger konnten zu einem großen Teil ausgehen, reisen oder zu Hause bleibe, wann sie es wollten. Claire denkt, dass viele Menschen hier nicht die Tendenz haben, über den Tellerrand hinauszuschauen. Für sie ist die aktuelle Situation vergleichbar mit einem „Dritten Weltkrieg“, der von einem Virus bestimmt wird. „Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, können uns retten oder eben nicht“, sagt sie. Es sei die Aufgabe der Gesellschaft, die Menschen um sich herum aufzufangen. Sie würde sich wünschen, dass jeder Einzelne ein wenig öfter an diejenigen denkt, die zu Hause sind. Dass es nicht immer die Zurückgebliebenen sind, die den ersten Schritt machen müssen.
Claire arbeitet seit März im Home-Office. Auch über diese Situation hat sie sich schon viele Gedanken gemacht. Denn sie weiß nicht, ob sie auch in Zukunft noch ein Recht darauf hat, von den eigenen vier Wänden aus zu arbeiten. Oder riskiert sie, ihren Job zu verlieren, wenn sie es verweigert, im Büro zu arbeiten? Claire kennt Arbeitnehmer, die deshalb schon Diskussionen mit ihren Vorgesetzten hatten. „Das stellt für Menschen wie mich eine große Unsicherheit dar.“
Von den eigenen Arbeitskollegen wurde ihr zum Teil Unverständnis entgegengebracht. Andere vulnerablen Personen würden ja trotzdem zur Arbeit kommen, wieso denn nicht sie? Auch Freunde wenden sich von Claire ab. „Sie sagen es nicht, aber ich merke, dass sie nicht unbedingt Verständnis für meine Situation haben. Sie tun es nicht absichtlich, aber sie leben eben weiter“, sagt Claire. Sie hat das Gefühl, das Leben „da draußen“ zu verpassen.
Ich habe mich noch nie so ausgeschlossen gefühltRisikopatientin
Claire fühlt sich wie ein Mensch zweiter Klasse. Sie gehört zu einer Minorität, die vergessen wird. „Ich habe mich noch nie so ausgeschlossen gefühlt“, sagt sie. Die 31-Jährige ist single und lebt allein. Sie will darauf aufmerksam machen, dass nicht jede vulnerable Person in einem Altersheim lebt. Es gibt zahlreiche aktive Menschen wie sie, die zu Hause sind und nicht mehr an der Gesellschaft teilhaben können.
Sie geht gerne unter Menschen, ist extrovertiert und schöpft ihre Energie aus dem Kontakt mit anderen. Virtuelle Kommunikation sei schön und gut, aber sie ersetze eben nie den menschlichen Kontakt und die Wärme, die eine andere Person ausstrahlt. Niemanden mehr in den Arm nehmen zu können, ohne Angst zu haben – das ist für sie das Schwerste. Und die Tatsache, dass kein Ende in Sicht ist. Ihr fehlt eine gewisse Stabilität, das Planen und der Blick in die Zukunft.
Ichbezogenes Luxemburg
Als Single würde sich Claire einen Partner an ihrer Seite wünschen. An Dating ist in der aktuellen Situation für sie allerdings nicht zu denken. „Vor 20 Jahren haben die Menschen nach einem Aids-Test gefragt, ich würde heute am liebsten nach einem Covid-Test fragen, wenn ich jemanden kennenlerne“, sagt sie. Klar gibt es Onlinedating. Aber ihre Motivation, sich anschließend mit jemandem zu treffen, halte sich extrem in Grenzen. „Für gewisse Dinge bleibt mir auch nicht mehr ewig Zeit. Die Planung einer eigenen Familie steht aktuell in den Sternen“, sagt die 31-Jährige.
Für Menschen, die keinerlei Verantwortung übernehmen und unbekümmert feiern, hat sie kein Verständnis. Es macht sie wütend, dass manche Menschen sich darüber aufregen, in „ihrer Freiheit“ eingeschränkt zu werden, „nur weil sie einmal in ihrem Leben zwei Monate lang begrenzt waren“. Luxemburg sei nicht gerade Profi in Bezug auf soziale Kohäsion, findet Claire. Hier gebe es nun einmal sehr viele ichbezogene Menschen, auch wenn diese das nie zugeben würden. „Wir sind eine reiche Gesellschaft, in der die Menschen es gewohnt sind, nach sich zu schauen“, sagt sie. Das zeige sich jetzt mehr denn je. Dabei könne die Situation nur bewältigt werden, wenn alle an einem Strang ziehen. „Die Freiheit eines jenen beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört“, zitiert Claire den deutschen Philosophen Immanuel Kant. Jeder könne leben, aber damit auch vulnerable Personen leben können, müssten die anderen eben mehr aufpassen. „Dazu sind die meisten nicht bereit. Das ist schade“, meint Claire.
Dabei verlangt sie gar nicht, dass jeder zu Hause bleibt. Ihr ist bewusst, dass die Wirtschaft weiterdrehen muss. Betriebe brauchen Menschen, die zur Arbeit kommen. Wenn Personen wie sie bereits ausfallen, sei es umso wichtiger, dass die anderen hingehen. Wenn sie allerdings auf den sozialen Medien sieht, wie Gruppen zusammen feiern, Selfies posten, auf denen sie Kopf an Kopf zu sehen sind, mit ihren Gläsern anstoßen und aus derselben Schale Chips essen, findet sie das schon fast peinlich. „Da fehlt es mir an Sinn für Realismus und Verantwortung.“
Andere Werte
Unter anderem solche Posts haben die 31-Jährige dazu angeregt, ihren Freundeskreis zu überdenken. „Ich merke, dass manche Freunde gar keine sind und andere öfter nach mir fragen, als ich das erwartet hätte“, sagt sie. Sie habe angefangen, ihr Umfeld aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und andere Werte zu schätzen. Von manchen Menschen distanziere sie sich zurzeit, während sie sich anderen wiederum annähert. Sie überlegt sich ganz genau, wer ihr ein Live-Treffen wert ist. Diesen Menschen begegnet sie dann einzeln, immer draußen, zum Beispiel bei einem gemeinsamen Spaziergang. Sie kann zudem ganz genau aufzählen, mit wem sie wann Kontakt hatte und wie viel Abstand es zwischen ihr und der anderen Person gab.
Bis auf seltene Einkäufe und Treffen an der frischen Luft ist Claires Alltag seit gut vier Monaten sehr monoton. Ihr Hund sorgt für die einzige Ablenkung, die ihr bleibt. Durch ihn ist sie gezwungen, das Haus zu verlassen. „Beim Spaziergang kann ich meine Batterien aufladen, an etwas anderes denken und frische Luft atmen“, sagt sie. Ein Wunsch, der jedoch offen bleibt: ein wenig Wellness. Über einen frischen Haarschnitt oder eine Behandlung bei einer Kosmetikerin würde sich die junge Frau freuen. „Leider werden diese Dienste fast nie zu Hause, zum Beispiel auf der Terrasse, angeboten“, bedauert Claire. Dabei gehören solche Dinge zum Wohlbefinden dazu. Auch hier würden viele Menschen nach Ende des Lockdowns vergessen – und die Betriebe verlieren Kunden.
Claire bedauert, dass vulnerablen Personen keine Stimme gegeben wird. Draußen höre man nur die Mehrheit der Menschen. „Wer vertritt unsere Interessen?“, fragt sie – und wünscht sich eine Vertretung, die sich für Risikopatienten einsetzt, auch für die jungen und aktiven unter ihnen, an denen das Leben vorbeizuziehen droht, bis es hoffentlich irgendwann einen Impfstoff gibt.
*Name von der Redaktion geändert
- Erste Einblicke ins Escher „Bâtiment IV“, wo Cueva an seinem bisher größten Projekt mit 106 Künstlern arbeitet - 24. Oktober 2020.
- Esch will Vorreiter in Sachen Sport werden - 24. Oktober 2020.
- Nach Transition zurück auf der Bühne: Luxemburger überzeugt zum zweiten Mal bei „The Voice of Germany“ - 21. Oktober 2020.
Liebe Claire ich kann dich gut verstehen ich bin in der gleichen Situation wie du ich bin 50 Jahre und bin auch Risiko Patient und lebe nur noch in meinen vier Wänden und auch meine Freunde haben sich von mir abgewandt und verschiedene lachen sogar über mich
Ich habe deinen ganzen Beitrag gelesen und das passt 100 % zu mir! Ich wünsche dir von ganzem Herzen viel viel Glück und gebe weiter acht auf dich weil das ist der richtige Weg und das mache ich auch so! Ich bin auch Single und würde auch wieder gerne eine Frau kennen lernen aber ich habe auch Riesen Angst mich anzustecken
Ich habe deinen ganzen Beitrag gelesen und das passt 100 % zu mir! Ich wünsche dir von ganzem Herzen viel viel Glück und gebe weiter acht auf dich weil das ist der richtige Weg und das mache ich auch so! Ich bin auch Single und würde auch wieder gerne eine Frau kennen lernen aber ich habe auch Riesen Angst mich anzustecken
Liebe Grüße aus dem Norden von Luxemburg
Steve
Ich bin in derselben Situation und würde mich freuen mit dieser Person zu kommunizieren und auszutauschen ! über FB oder per Mail oder über Hangout !
Guten Tag,
bitte schreiben Sie eine Mail an lokal@tageblatt.lu.
Beste Grüße aus der Redaktion
Liebe Claire, lieber Steve, (Frank)
Traurig eure Kommenare zu lesen.
Auch ich bin in einer ähnlicen Situation…
Gerne würde ich mit euch kommunizieren .
Per mail wäre ganz ok
Liebe Grüsse Tania
Hallo alle zusammen bin der Tomm und leide unter der selben Situation…Bin moralisch am Ende…Habe eine Cousine verloren mit Corona 43 Jahre von wegen alte Leute…Auch ich wie gesagt mit 2 Autoimmunerkrakungen lebe jetzt total in Angst und niemand der sich kuemnert…Euch alles liebe und Gute viel Courage…Wuerde mich auch ueber Kommunikation und Austausch freuen…Liebe Gruesse Pat…
Hallo
Ich bin auch Risikopatientin und seit März im Homeoffice und habe auch das Gefühl dass diese vielen Leute die als vulnerabel galten vergessen worden sind ?? Keiner weiss wie es weiter geht jeder soll auf sich selbst aufpassen …
Es ärgert mich zu sehen wie andere Leute respektlos sind und denken es wären nur ältere Leute die vulnerabel sind und ob jung oder alt spielt ja keine Rolle man soll für jeden Respekt haben und Maske tragen…
Wünsche euch alles Gute gerne auch Austausch
Lg Nancy
Gudden Reportage & flott ze liesen dass e puer Leit drop reagéiert hunn am positive Sënn ; dem Claire séng Situatioun verstinn , se deelen an eben och esou éng Erfarung duerchmaachen. Courage un iech all an wann Loscht besteet ze quatschen , ech sinn dobäi. Sinn zwar mëttlerweil 60 , mee net am Kapp . keep the faith 8.+))