Editorial / Kastrierte Oompa-Loompas: Roald Dahls Werk soll niemanden mehr verletzen
Kurz nach Ballettdirektor Marco Goeckes Hundekotattacke steht der nächste Kulturskandal vor der Tür: Mitte Februar gab die (von Netflix aufgekaufte) Roald Dahl Story Company bekannt, dass das Werk des weltweit bekannten Kinderbuchautors entschärft wird, damit sich ja niemand mehr am Gebrauch verschiedener Beschreibungen oder Wörter stößt: Das Adjektiv „fat“ soll beispielsweise durch „enormous“ ersetzt werden, die Oompa Loompas werden genderneutral, das Wort „hässlich“ wird ganz gestrichen.
Das passt in eine Gesellschaft, die der Philosoph Slavoj Zizek bereits vor mehr als 20 Jahren als entkoffeiniert bezeichnete: Wir wollen auf nichts verzichten, gleichzeitig aber nicht akzeptieren, dass manche Dinge (wie z.B. Kulturprodukte aus damaligen Zeiten) manchmal auch unbequem (oder daneben) sind.
„Wir müssen Risse haben, damit das Licht hineinkann/Wir müssen Kanten haben, damit es Risse gibt“, geht ein Lied der deutschen Postpunk-Band Love A, und bringt die Sache gewissermaßen auf den Punkt.
Dabei sind die meisten der aufgelisteten Neuschreibungen homöopathisch, wirken angesichts Dahls Antisemitismus meistens nur lachhaft – dass Dahl ein Problem mit Juden hatte, scheint wohl weniger problematisch als ein Oompa Loompa mit Penis.
Dahls Antisemitismus zeigt aber auch, wie sehr sich in dieser Debatte die Dinge vermischen: Nur weil jemand der Meinung ist, dass Werkänderungen im Allgemeinen schwachsinnig sind, bedeutet dies nicht, dass er oder sie Dahls persönliche Überzeugungen teilt, geschweige denn auch nur sein Werk schätzt. Man darf sehr wohl Zensur schwierig finden, auch (oder besonders) wenn es um Persönlichkeiten geht, die selbst schwierig sind.
Jemand, der dagegen ist, Leopold-II.-Statuen abzuschrauben, ist nicht automatisch ein fanatischer Kolonialist: Es ist diese totale Abwesenheit von Nuancen, die zeigt, dass es in der Debatte wieder mehr um die Streithähne und deren gefestigte politische Positionen als um Dahls Werk selbst geht.
Schlimmer ist jedoch, dass der Neoliberalismus mittlerweile einen Weg gefunden hat, die Cancel-Culture-Debatte finanziell auszumelken. Ein bemerkenswerter Artikel der New York Times gibt zu bedenken, dass „nach ein paar Tagen Gratismarketing von den üblichen Dauerempörten“ eine 17 Bände beinhaltende Reihe der ‚klassischen‘, sprich unzensierten Dahl-Bücher angekündigt wurde. Dahls Werk ist künftig also normal oder entkoffeiniert erhältlich. Und ganz wie für Kaffeekapselhersteller wie Nespresso gilt wohl, dass ein facettenreicheres Angebot zu mehr Kundenzufriedenheit führt.
Großer Gewinner ist dabei die Roald Dahl Story Company: Ihr gelang es nicht nur, alle Lager zufriedenzustellen, sondern zudem die Cancel-Culture-Debatte auszunutzen, um für einen Eklat zu sorgen und im Endeffekt vom wahren Problem abzulenken: nämlich dem, dass das Erbe eines Schriftstellers wie eine Marke verwaltet und den jeweiligen Kulturdebatten seiner Zeit angepasst wird – und das Werk somit eine künstlich erzeugte Relevanz bekommt, die Dahls Bücher wohl ansonsten gar nicht gehabt hätten.
Denn irgendwie müsste es doch so sein, dass, wenn Dahls Werk der heutigen Welt nichts mehr zu sagen hätte, es sich von selbst erschöpfen würde – daran würde dann auch der müde Austausch von Wörtern nichts ändern.
„Plutôt que de déchoir des œuvres et déboulonner des statues, pourquoi n’en érigerait-on pas à la gloire de l’erreur?“, schreibt Jean-François Kierzkowskis Erzählfigur im satirischen Roman „Portrait de l’écrivain en chasseur de sanglier“, bevor sie schlussfolgert: „De beaux romans et de grandioses statues rappelleraient au monde que certains hommes illustres ont été un jour en dessous de tout. Pour éviter toute méprise, chaque modèle à ne pas suivre serait représenté jambes et pieds nus, pantalon et chaussures rangées en retrait: symbole de l’homme à côté de ses pompes.“
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