Reform / „Keine Quantensprünge“: Verfassungsexperte Luc Heuschling im Interview
Die Verfassungsrevision rückt in greifbare Nähe: Noch vor Ende des Jahres könnte über einzelne Kapitel der Verfassung abgestimmt werden, heißt es aus den Reihen der zuständigen Chamber-Kommissionsmitglieder. Das Tageblatt hat mit dem Luxemburger Verfassungsexperten Luc Heuschling über den bisherigen Prozess und den vorliegenden Text gesprochen. Insgesamt stellt der Text keinen Paradigmenwechsel dar, sagt Heuschling.
Tageblatt: Herr Heusching, warum braucht Luxemburg eine neue Verfassung?
Luc Heuschling: Technisch gesehen reden wir momentan ja nicht von einer neuen Verfassung, sondern von einer Verfassungsrevision. Wenn ein ganz neuer Text geschrieben wird, ist man meist ambitiöser und die Erwartungshaltung ist eine andere. Bei einem neuen Text sollen ja dann auch neue Perspektiven aufgeboten werden – was sich von einer Revision unterscheidet, wie sie zurzeit angedacht ist. Ein neuer Text erlaubt es einem auch, eine andere zeitliche Perspektive einzunehmen und nicht auf bestehende Probleme, sondern auf Probleme der Zukunft einzugehen. Dann können auch politisch sensible Themen diskutiert und eventuell im neuen Text verankert werden. Das ist jetzt nicht der Fall, weil ja ein bestehender Text lediglich angepasst wird.
Wo erkennen Sie denn Neuerungen bei der geplanten Anpassung des Textes?
Der Begriff „neu“ muss erst mal klar definiert werden. Wird ein Text inhaltlich reformiert oder werden lediglich klarere und präzisere Formulierungen für den Status quo gewählt? Damit kann zum Beispiel erreicht werden, dass auch Personen ohne juristische Ausbildung sofort verstehen, was mit der entsprechenden Textpassage gemeint ist. In dem Sinne bedeutet „neu“ also nicht, dass sich etwas an der Substanz des Textes ändert oder neue Perspektiven aufgeboten werden. Es gibt keine innovative juristische Herangehensweise, sondern lediglich eine Umformulierung des bestehenden Textes.
Wenn ein Text jedoch inhaltlich geändert wird, wird es spannend. Da stellen sich dann viel interessantere Fragen. Wie kann die Zukunft des Landes politisch gestaltet werden? Was wollen wir ändern? Was wollen wir besser machen als bisher? Das ist natürlich viel komplizierter, aber eben auch um ein Vielfaches interessanter.
Gibt es denn inhaltlich bedeutende Neuerungen?
Als die Diskussion 2009 um die Rolle des Großherzogs aufflammte, gab es tatsächlich für kurze Zeit radikal neue Perspektiven. Für kurze Zeit wurde ja auch über das schwedische Modell diskutiert – mittlerweile wurden diese Ideen aber wieder verwässert, auch wenn einige Elemente behalten wurden.
Die da wären?
Dem Parlament wird in der neuen Verfassung das Recht eingeräumt, den Großherzog abzusetzen. Das wird natürlich nicht so ausdrücklich formuliert. Das ist eine inhaltliche Neuerung, die im kommenden Text verankert werden soll. Die ursprünglich diskutierten Vorschläge wurden jedoch bis heute wieder stark verwässert.
Dem Großherzog wird aber auch in der überholten Version des Textes weiterhin eine hohe Symbolkraft zugemessen.
Das ist aber grundsätzlich nichts Neues. Interessanter ist hingegen die Nachfolgeregelung, die beschlossen wurde. So kann das Parlament in Zukunft einen Thronfolger verhindern, wenn dieser als politisch nicht haltbar angesehen wird. Dieser Zusatz kann als kleine Revolution angesehen werden. Interessant wäre auch, die Begründung für den Artikel zu erfahren, da wir in Luxemburg eigentlich noch nie Probleme in der Hinsicht hatten.
Eine weitere wichtige Änderung betrifft die Regentschaft, die zukünftig nicht mehr vom Ehepartner des Großherzogs, sondern vom ersten volljährigen Nachfolger in der Thronfolge des Großherzogs übernommen werden soll. Das ist natürlich eine Antwort auf das Problem, das in Luxemburg Maria Teresa heißt.
Trotzdem wurde über einige Punkte hitzig diskutiert. Ich denke an das Kapitel zur Justiz …
Das ist ein wichtiger Punkt, bei dem tatsächlich entschieden wurde, etwas fundamental Neues zu wagen. Heute sind wir auch an einem Punkt angelangt, an dem die ja im Text festgehalten werden soll. Ansonsten sind wie gesagt aber wenig neue Elemente enthalten.
Auch wenn die Nationalhymne jetzt in der Verfassung steht – jeder wusste, dass das „Ons Heemecht“ ist. Das soll jetzt neu im Text stehen, ist aber im Prinzip jedem bekannt. Wirklich neu sind also nur Elemente zur Monarchie und der Staatsanwaltschaft. Dann wurden hier und da noch Kleinigkeiten festgehalten, wie zum Beispiel Kinderrechte oder die Freiheit der Wissenschaft und der Forschung. Insgesamt stellt der Text aber keine Revolution dar.
Wie wichtig ist denn die Verfassung überhaupt für das Luxemburger Rechtssystem?
Die Luxemburger Verfassung ist eine der kürzesten der Welt. Wenn weniger in der Verfassung drinsteht, bürdet man sich weniger Probleme für die Zukunft auf. Die neueren Verfassungen Lateinamerikas oder auch die Verfassung Indiens sind nicht selten über 500 Seiten lang. Die Verfassung ist dort der Ausgangspunkt für die Gesetze.
In Luxemburg gibt es hingegen eine große Anzahl an Gesetzen, Verträgen und Reglementen, zu denen sich dann noch das Europarecht und die Jurisprudenz gesellen, die sich den weiter offenen Problemen annehmen.
Das Rechtssystem kann man sich als Pyramide vorstellen, Juristen sprechen von einer Normenhierarchie. In Luxemburg stehen das Völkerrecht und vor allem das Europarecht an der Spitze dieser Hierarchie. Anschließend folgen zahlreiche Gesetze – für eine Verfassung bleibt also nicht mehr viel Platz. Die Luxemburger Lösung beinhaltet also eine kleine Verfassung, in der nur ein Minimum festgeschrieben wird. Mit dieser Tradition wollte der Gesetzgeber auch jetzt nicht brechen.
Laut Verfassung soll sich Luxemburg in Zukunft auch an der europäischen Integration beteiligen. Was bedeutet das genau?
Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, dass der Satz prinzipiell nicht Neues aussagt und lediglich die bestehende Situation schwarz auf weiß festhält.
Dann wird neben der deutschen und französischen Sprache auch erstmals die Luxemburger Sprache verfassungsrechtlich verankert.
Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass keine großen Schritte gewagt wurden, sonst hätte man auch eine Diskussion über den Stellenwert der verschiedenen Sprachen in Luxemburg führen müssen. Wie viele Sprachen sollen genannt werden? Welche Sprachen sollen genannt werden? Nehmen wir doch das Beispiel des Englischen. Es ist evident, dass die englische Sprache in Zukunft eine große Rolle spielen wird. Stattdessen wird in der Verfassung ein Satz aus dem Sprachengesetz übernommen. Man hätte auch überlegen können, welchen Stellenwert wir dem Portugiesischen zugestehen. Wie wichtig ist heutzutage noch die deutsche Sprache? Es wurde verpasst, diese Diskussionen zu führen.
Per Gesetz sind hohe Beamte dazu verpflichtet, Englisch zu beherrschen. Im Gesetz zum Öffentlichen Dienst sind wir also innovativer als in der neuen Verfassung.
Eine immer wiederkehrende Kritik ist, dass die Verfassung nicht als zusammenhängender Text, sondern in einzelnen Kapiteln reformiert wird.
Die Verfassung ist ein aus Einzelstücken bestehendes Ganzes … (lacht)
Das ist ja sehr diplomatisch.
Die Verfassung ist kein lebender Organismus, der stirbt, wenn man ihn zerstückelt. Eine Verfassung in mehrere Teile zu unterteilen, kann man durchaus machen. In dem Fall können einzelne Elemente verworfen oder geändert werden, ohne dass immer der Gesamttext geändert werden muss.
Es stellen sich einige technische Schwierigkeiten bei Verweisen auf andere Artikel. Diese sind jedoch für einen guten Juristen kein Problem.
Dann soll das Parlament auch gestärkt aus der Verfassungsrevision hervorgehen.
Auch hier wurde in einigen Punkten leicht nachgebessert, aber auch kein radikaler Schnitt vollzogen. Es werden einige Punkte aus dem Chamberreglement übernommen, die bisher nicht in der Verfassung standen. Das ist aber auch kein Quantensprung.
Wenn der Gesetzgeber das Parlament hätte stärken wollen, wären die Doppelmandate abgeschafft worden und dem Parlament würden Möglichkeiten eingeräumt werden, mehr auf Expertenmeinungen zurückzugreifen, um der Regierung mit fundierten Argumenten entgegentreten zu können.
Ein weiterer Ansatz wäre gewesen, die Opposition zu stärken. Die Politiker der Mehrheit haben ja ein gewisses Eigeninteresse, die Regierung nicht zu stürzen. Zum Beispiel könne in Betracht gezogen werden, Untersuchungskommissionen nicht nur mit den Stimmen der Mehrheit, sondern schon mit einer starken Minderheit einberufen zu können.
In Deutschland hat Klimapolitik jetzt durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Verfassungsrang erhalten. Wie ambitioniert zeigt sich die Luxemburger Politik?
Im neuen Artikel 31quinqies. soll folgendes festgehalten werden: „L’Etat s’engage à lutter contre le dérèglement climatique et à oeuvrer en faveur de la neutralité climatique.“ Jetzt stellt sich die Frage, wie weit diese Verpflichtung gehen soll. Muss ein Minimum oder ein Maximum getan werden, um dem Text gerecht zu werden? In Deutschland könnte man jetzt die Verfassungsrichter ansuchen, die in dem Fall ein Urteil fällen würden. Das ist in Luxemburg allerdings nicht so einfach – davon abgesehen braucht es auch dafür wieder Experten, die einschätzen können, ob die Regierung in der Hinsicht genug unternimmt oder eben nicht.
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Dann auch gleich der Übergang zur Republik. Gekrönte Häupter sind „out“.Jetzt wo wir dem Vatikan die Zähne gezogen haben wäre doch die Gelegenheit.
Ein Quantensprung ist eigentlich nur der kleinste Energiezuwachs, resp. Verlust in einem Atomkern. Somit ist die Verfassungsreform doch genau das!