Porträt / Keir Starmer an der Schwelle zu 10 Downing Street
In den jüngsten Umfragen ist der Wert für Labour ein wenig gefallen; stärker als andere Parteien sind die Sozialdemokraten von gutem Wetter am Wahltag abhängig, generell geben sich die Briten von der Politik genervt und enttäuscht. Wenn die rund 48 Millionen Wahlberechtigten auf der Insel aber nicht millionenfach die Demoskopen belogen haben und am Donnerstag doch lieber die Monster Raving Loony Party wählen, wird Keir Starmer am kommenden Freitag in die Downing Street einziehen.
„Wenn wir zum Dienst gerufen werden“ – in keiner Rede des 61-Jährigen über die Vorhaben einer Labour-Regierung fehlt die salvatorische Klausel, und fast alles spricht dafür, dass Starmer sie ernst meint. Er sieht sich wirklich zum Dienst an seinem Land gerufen. Dass diese Herangehensweise im Kontrast steht zum selbstsüchtigen Tollhaus, mit dem die Konservativen in den vergangenen Jahren die Briten entsetzt haben, muss er nicht eigens sagen.
Die Regierungspartei unter Premier Rishi Sunak setzt dieser Tage scheinbar alles daran, dem Wahlvolk deutlich zu machen, wie ideenlos und abgewirtschaftet sie ist. Mit dem Slogan, er habe anders als die Sozialdemokraten einen Plan für die Zukunft, stellte sich Sunak bei der Wahlankündigung vor seinem Amtssitz in den strömenden Regen. Das verstärkte im Land der stets bei sich getragenen Regenschirme, vorsichtig gesagt, nicht gerade den Eindruck planmäßigen Handelns.
Beim Gedenken an den 80. Jahrestag der Invasion in der Normandie schwänzte der Millionen-schwere frühere Hedgefondsmanager das internationale Event und verärgerte dadurch nachhaltig Millionen patriotisch gesinnter Briten.
Dieser Tage hagelt es Enthüllungen über skandalöse politische Wetten: Offenbar haben mehrere Kandidaten auf die eigene Niederlage gesetzt, Sunaks engstes Umfeld wollte mit hohen Einsätzen auf den Wahltermin Geld machen. Die Aufsichtsbehörde ermittelt wegen Insidergeschäften.
Der Amtsinhaber macht es dem Herausforderer also leicht. Sunak profitiert zudem vom britischen Mehrheitswahlrecht. Es zwingt die Menschen, jedenfalls jene in den heißumstrittenen Wahlkreisen, ihre eigene Priorität hintanzustellen und die Frage zu beantworten: Welcher Chef der beiden großen Parteien soll Großbritannien in den kommenden fünf Jahren führen?
Rhetorische Eleganz und Leichtigkeit sind gefragt
Schrill beschwört Sunak die Leute, sie dürften das Land „nicht der Labour Party überantworten“. Der dazugehörige Wahlspot zeigt eine Familie mit erhobenen Händen. Dabei mögen die Briten von Starmer nicht begeistert sein – nur 30 Prozent finden ihn gut –, aber Angst jagt er ihnen nicht ein. Achselzuckend sagen sie vielmehr: „Schlechter als unter den Torys kann es eigentlich nicht werden.“
Zur Politik Großbritanniens gehört, viel stärker als auf dem Kontinent, rhetorische Eleganz, Leichtigkeit, der Hang zum Theatralischen. Unernst à la Boris Johnson wird belohnt, solange er nur die Menschen zum Lachen bringt. Über vorsichtig argumentierenden, die Sachfragen erst einmal abwägenden Menschen, vor allem Politikern, hängt rasch der Vorwurf der Langeweile.
Dem ernsten, betont vorsichtigen Starmer scheint dies angesichts der Selbstzerfleischung der Torys zum Vorteil zu gereichen. Er verspricht wenig, jedenfalls deutlich weniger Veränderung, als sein Wahlslogan „Change“ nahelegt. Keine Steuererhöhungen, aber mehr Geld fürs Gesundheitswesen, die Aufstockung der Streitkräfte, mehr Lehrerinnen und Polizisten – all dies würden die Briten auch von den Torys bekommen, jedenfalls wenn es nach den Programmen beider Parteien geht. Die etwas progressivere Klimapolitik, das vage Gerede von einer vorsichtigen Wiederannäherung an die EU – die linksliberale Intelligenz und die einschlägigen Lobbyisten rümpfen gern die Nase über Starmers vermeintlich übermäßige Vorsicht.
Wähler sollten keine Wunder erwarten
Der Chef und sein engstes Team lesen die Stimmung im Land anders. Der verbreiteten Verzagtheit über die wirtschaftliche Lage und dem Zynismus gegenüber Politikern dürfe man nicht mit schönen Versprechungen begegnen. „Wir leben in den schwierigsten Verhältnissen seit langer Zeit“, predigt Starmer gern, von seiner Regierung seien keine Wunder zu erwarten. Die Mahnung gilt nicht zuletzt den eigenen Leuten: Viele „schöne Labour-Vorhaben“ wie die Beseitigung der grassierenden Obdachlosigkeit oder billigeren Wohnraum für junge Leute werden sich, wenn überhaupt, erst nach einiger Zeit verwirklichen lassen.
Begeisterung wie einst vor Tony Blairs Erdrutschsieg 1997 oder in den beiden erfolglosen Wahlkämpfen seines Vorgängers Corbyn lässt sich so natürlich nicht erzeugen. Dass Starmer dennoch an der Schwelle der Downing Street steht, spricht für seine politische Fortune. Denn bei seiner Wahl zum Parteichef im Frühjahr 2020 erbte er eine denkbar schlechte Ausgangslage. Unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn hatte sich die alte Arbeiterpartei eine schwere Niederlage eingefangen, im Unterhaus saßen so wenige Sozialdemokraten wie seit der Wahl 1935 nicht mehr.
Starmer übernahm das Ruder mitten in der Pandemie, der gerade von Covid genesene Premier Boris Johnson stand auf der Höhe seiner Beliebtheit. Beim Schlagabtausch im Unterhaus konnte der methodische Jurist dem dionysischen Rhetorik-Feuerwerk Johnsons selten das Wasser reichen. Als im Frühjahr 2021 die Nachwahl im nordenglischen Hartlepool verlorenging, war der Oppositionsführer seinem Biographen Tom Baldwin zufolge drauf und dran, den Bettel hinzuschmeißen.
Langweilig und rücksichtslos
In den dieser Tage zuhauf erscheinenden Porträts der britischen Medien fehlt neben dem Wort „boring“ (langweilig) nirgends eine zweite Vokabel: „ruthless“, also je nach Kontext rücksichtslos oder sogar unbarmherzig. Letzteres gilt wohl auch im Umgang mit sich selbst. Beinahe empört reagiert Starmer auf die Frage, ob er jemals in Therapie gewesen sei. „Ich habe genug Selbsterkenntnis, um mich nicht in Sackgassen mit Selbstgesprächen zu befassen“, sagte er dem Guardian. „Sie mögen das merkwürdig finden, aber für mich ist es wichtig, einfach weiterzumachen.“
Diesem Grundsatz treu blieb Starmer nach der Hartlepool-Schlappe, und langsam veränderte sich die Lage. In Folge der enormen Staatshilfen während der Pandemie stieg die Inflation auf der Insel, zunehmend litt die britische Wirtschaft unter den Brexit-Folgen. Dann kam Partygate: In Johnsons Downing Street war reihenweise gegen jene teils unsinnigen Vorschriften verstoßen worden, welche die Regierung den Bürgern zugemutet hatte. Der Lügenhaftigkeit im Unterhaus überführt, wurde der einst übermächtige Premier aus dem Amt gejagt, dem katastrophalen 49 Tage-Intermezzo Liz Truss folgte Sunak.
Mag sein, dass Starmer den langen Atem auf dem Fußballplatz gelernt hat. Von früher Jugend an vom runden Leder begeistert, verschenkte der Provinzknabe sein Herz an den Nord-Londoner Prestigeclub Arsenal. Den Oppositionsführer sah man häufiger im neuen Arsenal-Stadion oder in einem nahen Pub zur Live-Übertragung. Als er kürzlich das „Woodbine“ verließ, erhielt der eingefleischte Fan spontan Applaus von seinen Mittrinkern – und das in der Höhle des linken Gesinnungslöwen Corbyn.
Stundenlang Freistöße und Eckbälle trainiert
Wenn vom Fußball die Rede ist, kommt – selten genug beim öffentlichen Menschen Starmer – Begeisterung auf. Dann berichtet er von seiner Anbetung für die holländische Ikone Johan Cruyff und dessen „totalen Fußball“ der 1970er Jahre. Wie sein Idol ein Linksfüßler, trainierte Starmer stundenlang Freistöße und Eckbälle. Bis heute trifft er sich regelmäßig mit Freunden zum Feierabendspiel auf Kunstrasen, beschreibt seine Position als „Mittelfeldspieler zwischen beiden Strafräumen“ und schränkt dann schmunzelnd ein: „Meine Freunde sagen, so sei es vor zwanzig Jahren mal gewesen.“
Damals schickte sich der erfolgreiche Menschenrechtsanwalt gerade an, Leiter der Staatsanwaltschaft von England und Wales zu werden. Erst seit 2015 gehört er als „sehr ehrenwerter“ Abgeordneter für den innerstädtischen Wahlkreis Holborn und St. Pancras dem Unterhaus an, dessen Rituale und Traditionen ihm fremdgeblieben sind. Der künftige Premierminister ist von treuen Freunden umgeben und ruht in seiner Familie. Dem Vernehmen nach sträubt sich Victoria Starmer, eine Anwältin im NHS, gegen den Umzug in die Downing Street, nicht zuletzt zum Schutz der beiden halbwüchsigen Kinder. Doch alles sieht danach aus, als würden ihnen die Briten diesen Dienst am Land abverlangen.
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