Popmusik / Klangwelten: Mehrstimmiger Trauermarsch, Mut zur Hässlichkeit, wunderbare Wundertüten
Manchmal hört man wenige Takte eines Albums und ist sofort Feuer und Flamme. So geschah es jüngst, als „False Lankum“ (9 Punkte) von Lankum das erste Mal lief. In „Go Dig My Grave“ (schön morbide) ist erst nur die Stimme von Radie Peat zu hören, die den Eindruck erweckt, hier wird der Tod einer ihr nahestehenden Person beklagt. Es ist ein emotionaler Klagegesang. Irgendwann setzt die Akustikgitarre ein, und langsam kommt immer mehr hinzu und der Albumauftakt entwickelt sich zu einem mehrstimmigen Trauermarsch. Musizierend und mit gesenkten Häuptern ziehen Lankum durch die Gassen und trauern – dieses Bild brennt sich beim Hören ein.
Die Band existiert seit 2000, hieß anfangs Lynched und setzt sich aktuell neben Peat aus Ian Lynch, dessen Bruder Daragh Lynch und Cormac Mac Diarmada zusammen. Sie alle beherrschen mehrere Instrumente (etwa eine Art Ziehharmonika). Das wirklich Besondere ist jedoch, dass das Quartett aus Dublin (irischen) Folk mit Drone kombiniert. Klingt unglaublich, entspricht jedoch der Realität und ist ganz famos. Man stelle sich vor, Sunn O))) würden etwas von 16 Horsepower oder Wovenhand covern (siehe „The New York Trader“) und noch eine Prise Spiritualized hinzugeben („Clear Away In The Morning“). Lankum können auch einfach, wie die Folk-Balladen „Newcastle“ und „On A Monday Morning“ zeigen.
Diesen sehr speziellen Sound haben sie über die Jahre entwickelt, und er erlebt auf ihrem fünften Album „False Lankum“, das mittels der Zwischenstücke „Fugue I-III“ geviertelt wurde und dessen Titel (wie auch der Bandname) der gleichnamigen Folkballade des 1969 verstorbenen reisenden, irischen Musikers John Reilly entlehnt ist, seinen vorübergehenden Höhepunkt. Und neben den unterschiedlichen Einflüssen kommt der Band auch zugute, dass jedes Mitglied mal singen darf – teils alleine, teils gleichzeitig. Hoffentlich geben Lankum bald in der Nähe ein Konzert.
Mut zur Hässlichkeit beweist Karin Dreijer alias Fever Ray in Sachen Artwork (von Martin Falck) ihres neuen Albums „Radical Romantics“ (7 Punkte). Ein zombiemäßiges Konterfei ist da zu sehen: bleiche Haut, Glatze mit wenigen langen Haare, nur der Mund und die Augenhöhlen wurden bunt geschminkt. Und dann dieses fiese Grinsen. Schaurig.
Musikalisch schockt die Schwedin auf ihrem ersten Album in fünf Jahren erfreulicherweise nicht. Ihre Musik ist über die Jahre durchaus komplexer und avantgardistischer geworden. Doch was sie seit dem Herbst 2019 in den Stockholmer Studios, die sie zusammen mit ihrem Bruder und The Knife-Bandkollegen Olof Dreijer errichtet hat, u.a. mit ihm, den Nine-Inch-Nails-Mitgliedern Trent Reznor und Atticus Ross, dem portugiesische DJ und Produzenten Nídia, Johannes Berglund, Peder Mannerfelt und Pär Grindviks (beide vom EDM-Duo Aasthma) und Vessel erarbeitet hat, ist spannender, experimenteller Electropop, der nicht weiter weg vom Kommerzeinerlei entfernt sein könnte.
So schaurig das Cover anmuten mag, so schön sind diese Songs, in denen stets neue perkussive Elemente das Grundgerüst bilden.
Bereits wieder Neues gibt es von Dry Cleaning, der Londoner Band um Frontfrau Florence Shaw, die eher spricht statt zu singen. Auf ihr hochgelobtes zweites Album „Stumpwork“, erschienen im Oktober des vergangenen Jahres, folgt die digitale EP „Swampy“ (8 Sterne). Unter den fünf Songs befinden sich ein Remix des Hits „Gary Ashby“, den der aus Maryland stammende Musiker Marcus Brown alias Nourished By Time liefert.
Er hat das Original modifiziert, indem er Teile des Songs neu eingesungen hat. Charlotte Adigéry und Bolis Pupul haben das Gitarre-Bass-Lied „Hot Penny Day“ in ein minimal-elektronisches Stück verwandelt, das anfangs entfernt an den Düsseldorfer Musiker Stefan Betke alias Pole erinnert, in das aber im weiteren Verlauf Einflüsse aus House und Big Beat eingearbeitet wurden.
An letzter Stelle steht der jazzig-chillige Demotrack „Peanuts“ und am Anfang stehen die neuen Songs „Swampy“ (lebendig, dezent noisig) und „Sombre Two“ (meditatives Instrumental). Sie wurden während den „Stumpwork“-Sessions aufgenommen. Laut Band „fühlen (sie) sich wie gute Begleiter an. Sie teilen eine staubige, trostlose und spacige Atmosphäre. Am Vorabend dieser Veröffentlichung sind wir durch den Südwesten der USA getourt, wo sich diese Songs in der trockenen, marsähnlichen Landschaft der Wüste von Arizona zu Hause fühlen.“
Zum Schluss noch „Phantom Vibrations“ (7 Punkte), das zweite Album des Potsdamer Quartetts Kaskadeur. Mit Gitarre, Bass, Schlagzeug und Hammondorgel schlagen sie eine Brücke von ihren Ursprüngen im Stoner-Rock hin zum Progrock und nehmen dabei etwas beschwingte Rockmusik mit („The Truth, The Curse, The Lie“). Diese Einflüsse unter einen Hut zu bekommen, fällt den Herren hörbar leicht.
Das Ergebnis überzeugt und offenbart viele Facetten, sprich unterschiedlich geartete Songs: vom leichtfüßig-verspielten „Join The Cult“ über das wilde, ständig einen neuen Kurs einschlagende „Generation Absolution“ bis zum Stoner-Prog-Rocker „Bubble Burst“. Kaskadeur beenden das Album mit „Moving Particles“, einer weiteren Wundertüte, bei der nicht zu ersehen ist, was im nächsten Takt folgen könnte.
(Kai Florian Becker)
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