Expertengespräch / Die Null-Lösung: Was der Klimawandel für die Welt bedeutet und wieso schnell gehandelt werden muss
Zur Zeit des Interviews ist Sonia Seneviratne (48) in Locarno (CH). Die Umweltphysikerin ist Teil der Jury des traditionsreichen Filmfestivals, die erstmalig den „Pardo Verde“ vergibt. Der grüne Leopard prämiert den Film mit der besten Umweltbotschaft. Normalerweise lehrt Seneviratne an der ETH Zürich und beschäftigt sich seit 20 Jahren mit Fragen des Klimawandels. Für den letzten Zwischenbericht des Weltklimarates hat sie das Kapitel „Extremereignisse“ koordiniert und daran mitgearbeitet.
Tageblatt: Sie beschäftigen sich seit 20 Jahren mit dem Klimawandel. Jetzt gerade müssten Sie sehr beunruhigt sein, oder?
Sonia Seneviratne: Wir wissen schon seit mehr als 20 Jahren, dass wir ein Problem haben. Die Bedingungen, die wir momentan haben, sind von der Forschung genau so erwartet worden, falls nichts passiert.
Sie warnen unermüdlich vor endgültigen Tatsachen, was die Erderwärmung angeht. Dabei macht 1,5 oder zwei Grad einen großen Unterschied. Die meisten Menschen können das gar nicht nachvollziehen …
Ein halbes Grad macht einen Riesenunterschied für die Erde und für uns. 1,5 und zwei Grad Erderwärmung sind global berechnete Durchschnittswerte. Regional haben wir – gerade bei den Kontinenten – mehr Erwärmung. Während wir im letzten Jahrzehnt 1,1 Grad globale Erwärmung hatten, hat die Erwärmung auf Landmassen 1,6 Grad betragen. Außerdem ist ein Unterschied von einem halben Grad keinesfalls unbedeutend. Nehmen wir den menschlichen Körper. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand 38,5 Grad Fieber hat oder 39 Grad und noch größer wird der Unterschied zwischen 39,5 und 40 Grad. Da wird es unter Umständen lebensbedrohlich.
Wenn wir jetzt so weitermachen, in welchem Jahr ist die 1,5-Grad-Erwärmung mit all ihren Konsequenzen erreicht?
Wir erwarten, dass wir etwa 2030 eine globale Erwärmung um 1,5 Grad erreichen. Ob wir deutlich mehr als 1,5 Grad erreichen werden, hängt davon ab, ob wir unsere Emissionen in den kommenden sieben bis acht Jahren reduzieren können.
Was bedeuten die 1,5 Grad für die Arktis und was für Europa?
Für die Arktis hat es große Auswirkungen. Wie schon gesagt, gibt es regionale Unterschiede. 1,5 Grad globale Erwärmung bedeuten für die Arktis 4,5 Grad zusätzliche Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit. In dieser Region gäbe es dann im Durchschnitt alle 100 Jahre ein eisfreies Meer. Für Zentral- und Westeuropa bedeutet 1,5 Grad globale Erwärmung circa 2,5 Grad Erwärmung für die heißesten Tage. Im Durchschnitt auf Landregionen wären heiße Verhältnisse, die ohne unseren Einfluss nur einmal alle zehn Jahre stattfinden würden, viermal wahrscheinlicher.
Was bedeuten zwei Grad?
Dann gibt es statt alle 100 Jahre alle zehn Jahre eine eisfreie Arktis. Auf dem Land ist die Mehrheit der Sommer Hitzesommer. Sechs solcher Sommer in einem Rhythmus von zehn Jahren werden dann so sein. Für den Mittelmeerraum wird bei zwei Grad Erwärmung erwartet, dass die Ökosysteme, wie wir sie von dort kennen, teilweise nicht überleben können. Bei zwei Grad steigt außerdem die Gefahr, dass verschiedene landwirtschaftliche Gebiete gleichzeitig von Klimaextremereignisse betroffen werden. Das trifft die Lebensmittelsicherheit.
Wo ist der Ausweg?
Wir müssen so schnell wie möglich unsere CO2-Emissionen verringern. Wenn wir die globale Erwärmung auf etwa 1,5 Grad halten wollen, dann müssen die Emissionen bis 2030 halbiert werden. Die Hauptursache für die CO2-Emissionen ist die Verbrennung von fossiler Energie wie Erdöl, Gas und Kohle. Wir müssen andere Energiequellen nutzen und Strom mit erneuerbaren Energien erzeugen.
Sie halten nichts von der Idee, allein auf Technologie als Lösung des Problems zu setzen. Ihre Argumente?
Es wird immer wieder über Technologien diskutiert, die der Atmosphäre CO2 entzieht – eine Art Staubsauger. Die Methodologie wurde entwickelt, aber die Mengen, die damit aufgenommen werden, sind sehr gering. In den Szenarien, die in den Berichten vom Weltklimarat evaluiert werden, werden höchstens zehn Prozent der jetzigen Emissionen mit solchen Methoden und mit Aufforstung kompensiert. Das ist also keine Wunderlösung. Bei der Verringerung der Emissionen spielt eine andere Art von Technologie aber eine wichtige Rolle, nämlich der Übergang von der Verbrennung fossiler Energieträger auf die Nutzung von Wind-, Sonnen- und Wasserenergie.
Beim „Staubsauger“ gibt es aber noch andere Probleme …
Das Problem ist, wo soll das entnommene CO2 langfristig gespeichert werden? In Island laufen gerade Tests, um CO2 an ein Gestein zu binden. Aber wie gesagt, sind die damit gespeicherten Mengen sehr gering. Die Hauptlösung ist und bleibt, die CO2-Emissionen so zeitnah wie möglich auf null zu bringen.
Bewirkt der Klimawandel erst dann andere Verhaltensmuster, wenn die Regale im Supermarkt leer bleiben?
Ich beobachte, dass das Thema Klimawandel in der Öffentlichkeit angekommen ist. Es kam auch bei 40 Grad in Großbritannien und Bränden und Hitzewellen im Rest Europas niemand mehr daran vorbei. Die Frage ist, wie viel muss vor den eigenen Augen geschehen, bis sehr mutige Entscheidungen getroffen werden?
Was wären denn mutige Entscheidungen?
Wenn Verbrennungsmotoren oder Öl- und Gasheizungen innerhalb von wenigen Jahren verboten würden. Man muss das langfristig sehen. Das Klimaproblem ist ein Energieproblem. Es entsteht über den Verbrauch von Öl, Gas und Kohle. Dabei wird oft übersehen, dass genug Energie über die Sonne da ist – sogar mehr als genug.
Der Satz „wir können ein ebenso komfortables Leben mit weniger Emissionen führen“ stammt von Ihnen. Offiziell hören wir derzeit eher von Sparen und Verzicht. Können Sie das erklären?
Ein Beispiel: Wenn verstärkt Elektroautos, gerade in den Städten, unterwegs sind, gibt es im Nebeneffekt weniger Lärm und weniger Feinstaubpartikel, das heißt mehr Lebensqualität. Ein anderes Beispiel ist: Methan spielt neben CO2 eine wichtige Rolle. Das Gas entsteht in der Tierhaltung. Weniger Fleischkonsum bedeutet weniger Methan und gleichzeitig gesündere Ernährung. Es gibt viele solche Beispiele. Der einzige Bereich, wo es keine Alternative gibt, ist der interkontinentale Flugverkehr. Dort muss einfach weniger geflogen werden.
Sie sprechen von Transition …, einer anders lebenden Gesellschaft …
Genau. Der Verzicht darauf, fossile Energien zu verbrauchen, heißt nicht, dass man verhungert, im Kalten sitzt oder sich nicht mehr fortbewegen kann. Es braucht dafür natürlich Infrastrukturen und Vernetzung.
Hat die Politik geschlafen?
Ich glaube, die Politik hätte mehr tun können – vor allem in Europa. Eigentlich haben wir ja gar kein Interesse daran, von fossilen Energieträgern abhängig zu sein. Die meisten europäischen Länder haben keine Vorkommen von fossilen Energien. Es wäre im Interesse aller dieser Länder gewesen, dass wir diesen Übergang so schnell wie möglich vorantreiben. Aber besser spät als gar nicht.
Sie sind vor Gericht eine gefragte Expertin, wenn es um Klagen gegen Klimaaktivisten geht. Sie attestieren Richtern eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung des Klimawandels, warum?
Richter sind ein Leben lang Richter. Sie können die Gefahren des Klimawandels aus einer langfristigen Perspektive abschätzen. Politiker haben eine Perspektive von vier oder fünf Jahren – bis zur nächsten Wahl. Beim Klimawandel ist langfristiges Denken gefragt – mindestens 20 Jahre und mehr.
Sie haben beim Zwischenbericht des Weltklimarats viel zum Kapitel über Extremereignisse beigetragen. Sie tun das ehrenamtlich. Würden Sie es noch mal machen?
Ja, klar. Ich denke, das war eine wichtige Arbeit.
Wie ist Ihr persönlicher ökologischer Fußabdruck?
Ich habe es nicht genau berechnet, aber er dürfte geringer sein als bei anderen. Ich habe kein Benzinauto, seit zweieinhalb Jahren fliege ich nicht mehr, in den Urlaub nach Kroatien sind wir mit dem Zug gefahren.
Sonia Seneviratne
Sie ist seit 2007 Professorin an der ETH in Zürich. Sie lehrt die Zusammenhänge zwischen Land und Klima. Ihre Doktorarbeit hat sie 2003 zum Thema regionale Wetterkreisläufe, Hitze und Trockenheit verfasst. Seneviratne gilt derzeit als eine der profiliertesten Expertinnen zum Thema Klimawandel. Sie hat an mehreren Berichten des Weltklimarates mitgearbeitet. Ihre Muttersprache ist Französisch, sie ist in der Westschweiz aufgewachsen. Aktuell lebt sie mit ihrer Familie in Zürich.
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