Esskultur / „Koch des Jahres 2021 René Mathieu: „Jetzt ist es Zeit, zu handeln!“
Ab sofort geht Sternekoch René Mathieu buchstäblich in den Supermarkt. In der Welt von morgen muss Altbewährtes nicht verschwinden, wenn es neu gedacht wird, sind der Koch und die Supermarktkette Cactus überzeugt. Im Gespräch mit Daisy Schengen bricht der „Top chef mondial des légumes“ und „Gault&Millau“-Chefkoch des Jahres eine Lanze für mehr Natur auf dem Teller, für lokale und saisonale Produkte. Und für das Verlassen von abgetretenen Pfaden.
Umdenken und Neues wagen müssen: Die Corona-Krise hat unser gesamtes Leben auf den Kopf gestellt. Der Alltag vor Corona ist heute ganz anders – auch in der (heimischen) Küche. Home-Office, Homeschooling, produktionsbedingte Lieferengpässe haben uns Verbraucher dazu gezwungen, über unser Essen nachzudenken. Woher kommt es, bei wem kaufen wir ein? Und auch das Thema Lebensmittelverschwendung rückte plötzlich in den Mittelpunkt: Allein in Luxemburg landen nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums jährlich 118 Kilogramm Lebensmittel in der Tonne. All das sorgte dafür, dass gutes und gesundes Essen im Laufe des Corona-Jahres 2020 buchstäblich in aller Munde war.
Der „Koch des Jahres 2021“ (Gault&Millau) und die Luxemburger Supermarktkette Cactus, die sich ebenfalls Nachhaltigkeit, kurzen Kreisläufen und gesunder Ernährung traditionell verpflichtet fühlt, bündeln in diesem Zusammenhang ihre Kräfte. Am 19. Januar stellten der „Beste Chefkoch weltweit im Bereich Gemüse“ (Guide vert) und Chefkoch mit dem ersten „Grünen Michelin-Stern 2021“ (Guide Michelin) ihre neue Partnerschaft im Schloss in Burglinster vor, wo René Mathieu das Sterne-Restaurant „La Distillerie“ betreibt.
In den sogenannten „Cartes blanches“, die die Supermarktkunden bei ihrem Einkauf in der Gemüseabteilung entdecken werden, gibt der Koch Tipps, die den Verbrauchern helfen, sich bewusster, gesünder und vollwertiger zu ernähren. Wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen, lässt sich das Ziel der Partnerschaft – „Verändern wir etwas! Lasst es uns tun!“ – noch leichter erreichen, hieß es bei der Vorstellung des Projekts. Die „Cartes blanches“ von René Mathieu enthalten außerdem Anregungen für den Einkauf – lokale und saisonale Produkte bevorzugt –, Zubereitungs- und Rezeptideen für „bekannte und weniger bekannte Pflanzen“ sowie Wissenswertes über die Wirkung von verschiedenen Pflanzen auf Körper und Geist.
„Alle meine Ratschläge“, sagt der Chefkoch bei der Vorstellung der Partnerschaft, „gebe ich in voller Demut weiter. Sie (die Verbraucher, Anm. d. Red.) bleiben Herr über Ihre Handlungen und Entscheidungen. Lassen Sie sich von Ihrem Gewissen leiten!“ Die Leidenschaft, die der Vater einer Tochter in seinem Beruf lebt, legt Mathieu sowohl in seiner Ansprache als auch bei dem nachstehenden Interview an den Tag, das er im Anschluss der Präsentation dem Tageblatt gegeben hat.
Tageblatt: Herr Mathieu, mit dieser neuen Partnerschaft wagen Sie als Sternekoch den Gang in den Supermarkt. Glauben Sie, dass die Kunden dort auf Ihre „Cartes blanches“ neugierig oder eher zurückhaltend reagieren?
René Mathieu: Die Kunden, die im Supermarkt einkaufen, spiegeln die Gesellschaft wider – es gibt Menschen, die finanziell bessergestellt sind als andere. Ich möchte diejenigen ansprechen, die weniger Geld zur Verfügung haben, die nicht das Glück haben, um es sich leisten zu können, zu uns in die Restaurants essen zu kommen. Menschen, die weniger Geld haben, sind möglicherweise eher bereit, etwas an ihrer Ernährung zu ändern, aber scheuen sich davor, weil sie nicht wissen, wie sie das anstellen können.
Das ist das Ziel, das Cactus und ich mit dieser Zusammenarbeit verfolgen. René Mathieu will keine Rezepte schreiben, ich will auch nicht kochen! Es geht hier um meine Philosophie, den Verbrauchern zu helfen, sich gesünder und saisonaler zu ernähren. Um nicht beispielsweise Spargel im März zu kaufen, wenn noch kein Gemüse wächst.
René Mathieu tritt jetzt für einen Mentalitätswechsel ein?
Absolut! Nur Fleisch ohne Gemüse, das geht nicht. Man braucht keine zig Gerichte am Tisch, ein Sellerie reicht für vier völlig aus. Es kann so nicht weitergehen – immer mehr zu haben, unersättlich zu sein. Hört damit auf!
Die Pandemie hat uns allen gezeigt, wohin diese Völlerei und Unersättlichkeit führen können …
Selbstverständlich. Und möglicherweise sind manche Menschen jetzt mehr denn je bereit, umzudenken. Jetzt ist es Zeit, zu handeln! Nicht in einem Jahr. Wir befinden uns mitten in der Krise. Und die Menschen haben in der Zwischenzeit gelernt, zu Hause zu kochen. Und sich zu Hause mit wenigen, aber guten Zutaten gesund und gut zu ernähren, um in Form zu bleiben. Anstatt jeden Tag im Restaurant zu essen, ein dauerhaftes Völlegefühl zu spüren, das einem bis zum Hals hängt. (macht eine ausladende Handbewegung am Kinn)
Bildlich gesprochen wird der Sternekoch zum Ernährungscoach …
Exakt. Ich sehe mich als Trainer, übernehme in gewisser Weise die Führung. Ich hatte Gespräche mit den Filialleitern in den Supermärkten, beriet jeden Verkäufer in jeder Filiale. Sie und ihr Wissen sind der Schlüssel zum Erfolg. Ich bin es nicht, ich gebe nur die Ideen, die Verkäufer erklären sie den Kunden.
Ihre Vision ist die eine Seite der Medaille, die Umsetzung die andere. Wie prüfen Sie, ob Ihre Ideen funktionieren?
Ich kann mir vorstellen, mich inkognito in einer Filiale in die Gemüseabteilung zu stellen und zu schauen, was die Menschen kaufen. Und mit den Kunden ungezwungen ins Gespräch zu treten, sie zu fragen, warum sie beispielsweise Erdbeeren im Winter kaufen. Aber niemals dogmatisch werden und mit erhobenem Zeigefinger sagen: „Sie dürfen das nicht kaufen.“ Das ist nicht der richtige Weg.
Sondern?
Ich habe ein anderes Bewusstsein für Ernährung. Aber es gibt Menschen, die es nicht haben. Die, die sich nicht verändern wollen, müssen es auch nicht. Als wir im vergangenen Juni wieder das Restaurant öffneten, kamen die Menschen noch zahlreicher als zuvor zu uns. Aber nicht nur wegen der pflanzlichen Gerichte. Es steckt mehr dahinter, die Menschen wollen Veränderung.
In unserem Fall ist die Veränderung eher klein, etwa 50 Gedecke täglich. Aber es gibt Millionen Menschen, die einkaufen gehen, und dort muss die Veränderung im Großen beginnen. Menschen, die zu mir ins Restaurant kommen, teilen meine Philosophie, wie Mahlzeiten sein müssen. Diese Idee der Bevölkerung zu vermitteln, ist weitaus komplizierter. Deshalb sollte man das intelligent anstellen, niemanden damit brüskieren.
Bleiben wir noch bei Ihrer Philosophie von Esskultur. War die Corona-Krise, die Luxemburgs Gastronomie schwer getroffen hat, der Auslöser für die neuen Projekte?
Sicherlich. Die Pandemie hat uns gezwungen, auf uns selbst zu fokussieren und zu überlegen: Was können wir für andere Menschen tun? Im Grunde ist das meine Philosophie – sei gut zu dir selbst und gebe mehr, als du kannst.
Es besitzt aber nicht jeder eine solche mentale Stärke, um in einer solch prekären Situation auf Ihre Art zu reagieren. Viele Gastronomen protestieren gegen die lang andauernde Schließung der Restaurants, haben Existenzängste …
Nein, das muss man aber nicht! Ich bin immer positiv gestimmt. Immer!
Sogar in dieser Krisenzeit?
Warum sollte ich alles negativ sehen? Denke ich positiv, verändere ich viel mehr! Bin ich traurig, versinke ich im Selbstmitleid, komme ich nicht weiter. Eine positive Einstellung hilft mir, die Möglichkeiten, die vor mir liegen, auch wahrnehmen zu können.
So wie die Möglichkeit, die Sie und Cyril Molard (zwei Michelin-Sterne, „Ma langue sourit“, Anm. d. Red.) neulich nutzten und als Sterneköche das Abenteuer Foodtruck wagten?
Warum nicht? Ich wollte nah an den Menschen sein! (Und wieder spricht Mathieu in einem rasanten Tempo, mit Nachdruck) Ich will nicht nur für Menschen da sein, die sich meine Küche leisten können. Am Foodtruck bot ich zwei pflanzliche Gerichte an. Die Menschen dort zahlten 10 Euro dafür. Sie und ich hatten ein breites Lächeln im Gesicht. Was für ein schöneres Geschenk gibt es als das?
Aber Sterneköche im Foodtruck sind schon eine nicht alltägliche Kombination.
Wir Küchenchefs glauben, man muss nüchtern, betriebsam, respektvoll sein. Darauf baut meine positive Lebenseinstellung auf.
Und so wollten Cyril und ich etwas anderes machen. Nicht unsere Identität als Köche verlieren, aber Neues wagen. Unsere Küche im Foodtruck – es klappt! Außerdem mag nur in Luxemburg ein Foodtruck nur für Hamburger stehen. Aber überall auf der Welt ist dort die Küche der Straße präsent.
Es klappte so gut, dass es eine Idee für die Zukunft sein könnte?
Selbstverständlich! Wenn wir nicht so schnell das Restaurant wieder öffnen dürfen, gehe ich wieder in den Foodtruck. Das Bild der essenden Menschen an der Pétrusse-Brücke in der Stadt, die gelächelt haben, glücklich waren, war wunderschön. Das ist für mich Leben – nicht traurig in seiner Ecke zu verharren.
René Mathieus Zubereitungstipp für Knollensellerie
Nehmen Sie eine ganze Sellerieknolle. Waschen Sie sie, geben Sie sie ganz in den Ofen, ohne sie zu schneiden oder zu schälen. Nach dem Backen das Sellerie abkühlen lassen, in Scheiben schneiden, mit einer leichten Vinaigrette mit Nüssen beträufeln, ein Stück Brot dazu – fertig.
Gemeinsam handeln und verändern
Sich gesund mit lokalen Lebensmitteln ernähren und dabei Lebensmittelverschwendung vermeiden – auf dieser Grundlage gehen die Supermarktkette Cactus und Sternekoch René Mathieu seit Januar 2021 einen gemeinsamen Weg. Unter dem Motto „Changeons! Agissons!“ treten beide Partner in diesem Sinne für eine „einfache, gesunde Alltagsernährung, die gleichzeitig nachhaltig“ ist, ein. „Nëmmen dat Bescht!“ lautet die Devise, auch im Sinne einer Inspiration für junge Menschen.
Die „Cartes blanches“ von René Mathieu werden einmal monatlich online und auf Papier erscheinen. Die erste ist seit dem 26. Januar online verfügbar unter www.cactus.lu/fr/changeons-agissons/rene-mathieu.
„My Roots“ – „Meine Wurzeln“
Der 59-jährige Belgier René Mathieu hat schon früh seine Liebe zu Natur und Pflanzen entdeckt, als er mit seinem Großvater, der Förster war, ausgedehnte Spaziergänge machte und Namen und Verwendung eines jeden Pflänzchen dabei verinnerlicht hat. Doch es dauerte lange, bis er sich auch als Koch buchstäblich zu seinen „pflanzlichen Wurzeln“ bekannte.
Dass er Koch wurde, verdankt er vor allem seiner Hartnäckigkeit und seinem Ehrgeiz. Denn beinahe wäre aus dem jungen René Mathieu ein Kellner geworden, erzählte der 59-Jährige in einem Interview mit unseren Kollegen von „Le Quotidien“ im vergangenen September. „Ich bin nicht auf die Hotelfachschule gegangen. Als Lehrling wurde mir geraten, im Speisesaal beim Service zu bleiben. Aber welches Recht hatten sie, mir zu verbieten, mich mitzuteilen?“, fragte er rückblickend. Mit 25 bekam Mathieu in Brüssel seinen ersten Michelin-Stern, bevor er nach Luxemburg kam und für ArcelorMittal und als Küchenchef am großherzoglichen Hof tätig war.
Die Passion für Pflanzen machte der Sternekoch erst später zu seinem Leitmotiv in der Küche. Wie er in unserem Interview verrät, umfasst seine kulinarische Philosophie weitaus mehr als Sterneküche rund um Pflanzen. Seine Vision bezieht sich auf das ganze Leben. „Eine bessere Lebensqualität erreichen, dabei als Gastronomieschaffende einen Beitrag für eine gesündere Zukunft unserer Gesellschaft leisten – das ist das Ziel von ‚My Roots’“, erklärt René Mathieu bei der Vorstellung des neuen Projektes. Das Unternehmen hat er gemeinsam mit seinem Partner Mario Willems 2018 in Luxemburg gegründet und dieses geht auch jetzt die Partnerschaft mit der Supermarktkette ein.
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