EU-Parlament / Kokettieren mit dem rechten Rand: EVP-Chef reißt zunehmend die Brandmauer ein
Die Mehrheitsmöglichkeiten haben sich für die Christdemokraten im Europaparlament geändert – und EVP-Chef Weber nutzt dies, um mal die Linken, mal die Rechten zu ärgern. Dabei reißt er allerdings die Brandmauer zum extremistischen Rand Stein für Stein ein.
Am späten Donnerstagvormittag rauscht die sozialdemokratische Fraktionschefin Iratxe García Pérez über die Gänge des Europaparlaments. Ihre Miene verrät, dass sie kurz davor ist, zu platzen. Ein paar Meter weiter geht Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke, auch sie mit versteinertem Gesichtsausdruck. Die extrem schlechte Laune der beiden hat offenbar mit der gerade beendeten Sitzung der Präsidentenkonferenz zu tun, in der die Fraktionsvorsitzenden unter Leitung von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola entschieden haben, wer den Sacharow-Preis für geistige Freiheit bekommt: María Corina Machado und Edmundo González Urrutia. Die Auszeichnung seiner Widersacher dürfte vor allem den Puls von Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro hochbringen, in Europa aber kaum bemerkt werden. Doch wieder hat EVP-Chef Manfred Weber seinen Willen mithilfe des rechten Randes durchgesetzt.
Der seit 1988 vom Europaparlament verliehene und mit 50.000 Euro dotierte Preis ist normalerweise nur etwas für Feinschmecker unter den Beobachtern der EU-Politik. Doch in diesem Jahr lassen sich daran die neuen Möglichkeiten von Europas Christdemokraten nach den Europawahlen vom Juni illustrieren. Als es darum ging, welche Kandidaten unter die letzten drei Finalisten kommen sollten, aus denen dann letztlich der Gewinner gekürt wird, zog Weber hinter den Kulissen die entscheidenden Stricke. Durch geschickte Stimmenverteilung sorgte er dafür, dass zwar sowohl seine eigene Venezuela-Option als auch die palästinensisch-israelische Preisidee von Sozialdemokraten und Liberalen und die Aserbaidschan-Präferenz der Grünen durchkamen, nicht aber Trump-Unterstützer Elon Musk, den die Rechten geehrt wissen wollten.
Er kann also jederzeit die Mehrheit nutzen, die er zusammen mit Sozialdemokraten und Grünen oder Sozialdemokraten und Liberalen hat. Doch wenn ihm Entscheidungen wichtig sind, die er mit den drei anderen demokratischen Fraktionen nicht hinbekommt, kann er auch anders. „Wir haben jetzt eine rechte Mehrheit im Parlament“, frohlockte Charlie Weimers von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten in der Migrationsdebatte vom Mittwoch. Mit der ließe sich nun illegale Migration und Asylmissbrauch in Europa verhindern.
„Das ist ein Dammbruch“
Weimers ist Mitglied in einer der drei rechten Gruppierungen, in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). Darin sitzen zwar auch die immer zu drastischen Zuspitzungen und antideutschen Ausfällen fähigen polnischen PiS-Abgeordneten. Doch den EKR-Takt bestimmt Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni. Angesichts der von Ungarns Viktor Orban und Frankreichs Marine Le Pen angeführten Fraktion „Patrioten für Europa“ und der von der AfD beherrschten Fraktion „Europa der souveränen Nationen“ gilt die EKR als so gemäßigt, dass man sie auch in der Spitze des Parlamentes und bald auch der Kommission mitwirken lässt. Das Problem für Weber: Mit der EKR allein reicht es nicht, er braucht auch Stimmen aus dem deutlich extremistischeren Rand.
So sorgte die rechte Mehrheit im September erstmals für Aufregung, als in einer Venezuela-Resolution nicht nur die Machenschaften von Amtsinhaber Maduro verurteilt werden sollten, sondern gegen den Willen der linken Mitte Oppositionsführer González Urrutia vom Europaparlament auch gleich zum Wahlsieger erklärt wurde. Erst recht gab es diesen Mittwoch helle Empörung, als EVP-Abgeordneten einem AfD-Antrag zur Mehrheit verhalfen. Es ging zwar nicht um die Genehmigung des nächsten EU-Haushaltes, sondern nur um eine Festlegung der Parlamentsposition für die Verhandlungen. Aber die EVP-Politiker trugen dazu bei, dass der Wunsch der AfD nach mehr Mitteln für größere Befestigungen an den EU-Außengrenzen durchkam. Daraufhin verweigerten jedoch die anderem dem Gesamttext die Zustimmung, sodass das Parlament nun ohne geeintes Konzept in die Verhandlungen geht. „In Deutschland reden CDU und CSU von Brandmauern, aber in Europa machen sie gemeinsame Sache mit der AfD. Das ist ein Dammbruch“, meint der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund.
Signal an die Mitte
Mit besonderem Interesse ist in Straßburg und Brüssel Webers Widerspruch zum Grüne-Verteufeln-Kurs seines eigenen CSU-Parteichefs Markus Söder zur Kenntnis genommen worden. Im Europaparlament hatte Weber zuvor selbst sehr reserviert auf das Grünen-Angebot zur Zusammenarbeit auf europäischer Ebene reagiert. In Deutschland dagegen sprach er sich gegen den Willen Söders dafür aus, eine Option zu einer Regierungsbildung mit den Grünen offenzuhalten. Somit wird sein wiederholtes Zusammengehen mit dem rechten Rand auch als Signal an die Mitte gedeutet, sich mehr auf den EVP-Kurs einzulassen. Es wird auch daran erinnert, wie sich die EVP in der vergangenen Wahlperiode fühlte, wenn Sozialdemokraten, Liberale und Grüne mit den Linken eine Mehrheit gegen die EVP bildeten. Die gibt es nun nicht mehr.
Offenbar will jedoch auch die linke Mitte den Sacharow-Preis vor Polarisierung schützen: Als Metsola das Ergebnis bekannt gibt, erheben sich zwar klatschend die EVP-Abgeordneten als erste, aber auch Sozialdemokraten, Grüne und Liberale stehen auf. So wie anschließend fast das ganze Haus erneut stehend applaudiert, als Metsola noch einmal an die anderen preiswürdigen Finalisten erinnert.
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