Luxemburgensia / Komische Umwege: „Was habe ich verpasst“ von Nora Wagener
Ein Jahr nach ihrem Kreuzfahrtroman, der auf gemischte Reaktionen stieß, kehrt Servais-Preisträgerin Nora Wagener mit 13 dieser Momentaufnahmen, mit denen sie bereits in „Larven“ überzeugte, zurück. Dass die sprachlich präzisen, erzählerisch intelligenten und empathischen Geschichten manchmal genauso ziellos wie ihre Figuren sind, ist dabei Teil des literarischen Programmes.
Eine Putzkraft schreibt kuriose Fragen auf Zettel, die sie ans schwarze Brett eines Gymnasiums heftet und fragt sich, wer zum Henker die Person ist, die ihr darauf antwortet. Ein Leseabend soll helfen, neurologische Thesen über die Verzahnung von Sprache und Gedanken zu erörtern.
Kinder spielen eine kuriose Variante von Wahrheit oder Pflicht, eine Tochter kehrt nach einer Trennung zum Vater zurück und verbringt, weil sie die „Liebe gelogen“ hat, ihre Tage in einer Kneipe, eine ältere Dame nimmt an einem Schönheitswettbewerb in einem Gemeindesaal teil, in dem im Anschluss an den einer Seniorenversion der „Mini Playback Show“ ähnelnden Nachmittag eine „Hundeausstellung“ stattfinden soll – und am Schluss wird der Tod einer Figur aus drei unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
In „Was habe ich verpasst“ porträtiert Wagener nicht unbedingt gescheiterte Existenzen, sondern Menschen, die innehalten, um auf ihr Leben zurückzublicken, ihren Werdegang mit dem von Freunden zu vergleichen, sich zu fragen, wieso eine Beziehung gescheitert ist oder wozu man sich ein Leben lang einer Karriere gewidmet hat, um im Nachhinein dann doch vom Arbeitgeber enttäuscht zu werden. Menschen sind, so stellen es Wageners Figuren immer wieder fest, gleichzeitig einzigartig und verdammt schnell austauschbar – im Berufs-, aber auch im Privatleben.
Manchmal gelangen sie an einen Punkt, in dem ihnen die metaphysische Sinnlosigkeit, gepaart mit der biologischen Zweckmäßigkeit, ins Gesicht schreit: „Zum ersten Mal kam mir diese Welt wie ein Leerlauf vor. Wie nacktes, rohes Dasein, mit der Antriebsfeder der Fortpflanzung geschrieben, aber wozu? Wenn das Leben außer bis zum nächsten Leben nirgends hinwill?“
Wie man in diesem Trugschluss der Einzigartigkeit, in dieser ernüchternden Feststellung der Austauschbarkeit zu sich selbst finden kann – und was ein solches Selbst überhaupt noch sein kann im späten Neoliberalismus, einem System, in dem Wilma „das längliche Waschbecken, das wie ein Schweinetrog aussieht, von Flecken“ befreit, in dem eine Angestellte eines Literaturhauses trotz harter Arbeit nicht in der Chefetage landet und in dem „das einzig Tröstliche“ für die Kinder, die aus der „falschen Ecke der Stadt“ kommen, darin liegt, „dass die Missstände, in denen sie aufwachsen, den meisten erst viel später auffallen“ wird: Das sind die Fragen, die Wagener hier unermüdlich verdichtet und ohne Pathos, dafür aber mit viel Humor und Empathie, stellt.
Wobei die Frage, was man verpasst hat, ja eigentlich der Kern fiktionalen Denkens darstellt: Nur wer alternative Lebensläufe konzipieren kann, vermag es, sich vorzustellen, was genau anders hätte verlaufen können. Weswegen es Sinn ergibt, dass viele der Figuren des Bandes ein (manchmal peripheres) Interesse am literarischen Schreiben haben oder im Literaturbetrieb tätig sind.
Pillenmüdigkeit
In Joachim Triers Film „The Worst Person in the World“ äußerte Renate Reinsves Figur die These, man wisse mittlerweile alles, und vielleicht sogar zu viel, über morgendliche Erektionen, Prostatakrebs oder männlichen Leistungsdruck, weil Literatur traditionell eine Männersache war und immer noch ein bisschen zu sehr ist, wohingegen in zeitgenössischen Erzählungen zu wenig, wenn überhaupt, über Menstruation, die Pille oder Abtreibung geredet werde.
„Was habe ich verpasst“ ist kein feministisches Pamphlet, zeichnet dafür lieber glaubhafte Frauenfiguren, die bei anderen Schriftsteller*innen gar nicht erst ins Rampenlicht getreten wären: „Die Knoblauchprobe“ führt uns durch eine kurze Geschichte der Abtreibung, thematisiert „Pillenmüdigkeit“, erklärt, was es mit dem Titel von Nirvanas „Pennyroyal Tea“ auf sich hat – und erzählt einfühlsam von Vergesslichkeit, Schwangerschaftstests, dem lästigen Apothekenbesuch, der Pille danach und dem verständnislosen Partner.
Oft halten die Geschichten vor ihrer Pointe inne, lässt Wagener ihre Figuren an einer Weggabelung stehen. Nur manchmal kommt er dann doch, der Wendepunkt – wenn wir die Wahrheit über den anonymen Korrespondenten am schwarzen Brett erfahren oder wenn der kleine Hasso darüber aufgeklärt wird, dass das Spiel nicht „Wahrheit und Flicht“ heißt.
Es sind dies die schwächeren Momente des Bandes – der geübte Leser weiß nach zwei Seiten, wer der mysteriöse Autor am „Schwarzen Brett“ ist und, selbst wenn man diesen etwas voraussichtlichen Twist mit dem Stilmittel der dramatischen Ironie wegerklären kann (der Leser ahnt, was die Figur nicht wahrnimmt), bleibt die Auflösung in etwa so enttäuschend wie ein zu langer Witz, dessen Pointe nicht richtig lustig ist.
Spurensuche
Toll ist hingegen, wie Wagener ihre Kurzgeschichten so miteinander verbindet, dass man den Eindruck einer kohärenten Fiktionswelt erhält, aus der die Autorin quasi Stichproben entnimmt: In jeder Story gibt es Verbindungen zwischen der jeweiligen Hauptfigur und denen der vorigen oder folgenden Geschichten, ganz nach Stanley Milgrams „Jeder kennt jeden“-Gesetz, laut dem wir alle über ein paar Ecken miteinander verbunden sind, in diesem vernetzten, globalisierten, kaputten Riesendorf, zu dem die Welt geworden sein soll.
So entsteht der Eindruck einer Fiktionswelt, die komplexer und reichhaltiger ist als die einzelnen Geschichten, die sie ausmachen. Letztere stellen Momentaufnahmen dar, entstanden durch ein gründliches Heranzoomen an diese komplexe Fiktionswelt, die der Band nur umreißt.
Der Leser wird dabei, wie in einem Detektivroman oder in einem Roman mit einem unzuverlässigen Erzähler, implizit dazu aufgefordert, Spuren von anderen Figuren in den Kurzgeschichten zu suchen und so Verbindungen herzustellen, die den Rahmen der jeweiligen Mikrofiktion sprengen – stets wird die Randfigur einer Geschichte zur Hauptfigur der nächsten.
Wagener verdeutlicht so, dass wir alle, je nach Perspektive, Haupt-, Nebenfiguren oder eben reine Statisten sind – und löst damit erzählerisch soziale Hierarchien auf, die im späten Kapitalismus so deutlich und unwiderruflich gezeichnet sind. Im Rahmen einer mise en abyme gibt Wagener dem Leser den poetologischen Interpretationsschlüssel zu diesem Verfahren: „Mit leichter Hand behandelt der Autor das Phänomen, dass wir – ohne viel eigenes Zutun – alle möglichen fiktiven Existenzen in den Köpfen anderer Menschen führen, dort zu Statisten für deren Selbstbildnis gemacht werden (…) während wir selbst, in real, genau dasselbe tun: Wir reimen uns den Charakter anderer Leute zusammen, schrumpfen sie auf eine spielbare Größe, damit sie in unseren Köpfen ein einfaches Dasein führen können.“
Wageners Beobachtungsgabe – wobei das Wort Beobachtungsgabe eigentlich ein mimetischer Trugschluss ist, schließlich beobachtet die Autorin ja keine unabhängig von ihr existierende Wirklichkeit, sondern schafft eine Fiktionswelt und lässt diese durch die Eindrücke, Erkenntnisse und Beschreibungen von Ich-Erzählern oder Reflektorfiguren Gestalt annehmen – ist nach wie vor bis ins letzte Detail verblüffend, viele Aussagen, Lebensweisheiten würde man bedingungslos unterschreiben, manche Metaphern und Beschreibungen absorbiert man kopfnickend, weil man dem Phänomen oder der beschriebenen Art Mensch oder Verhalten bereits mehrfach begegnet ist: „Was habe ich verpasst“ ist toll geschrieben, präzise gezeichnet, eindrucksvoll erzählt – und irgendwie lustiger als Wageners vorige Werke.
Humorvoll ist nicht nur die Onomastik – die Figuren heißen Hasso, Wilma, Britta, die Namen verorten oft die Figuren, wie auch in „Alle meine Freunde“, in einer Unter- oder Mittelschicht, in der es den Eltern relativ egal ist, mit welcher Last sie ihren Nachwuchs in die große, weite und meistens unerbittliche Welt lassen –, humorvoll sind auch die unerbittlichen, scharfen, listigen Kommentare der Figuren, speziell wenn sie den Literaturbetrieb kritisch aufs Korn nehmen: Als jemand nachhakt, was der Auslöser für seine literarische Tätigkeit ist, hat der Erzähler von „Der alte Schnee“ eine grandios-abstruse Antwort parat.
Mit dem Band zeigt Wagener erneut, dass sie die Form der Kurzgeschichte beherrscht und quasi ad infinitum durchdeklinieren kann, ohne dass der Leser beim Entdecken dieser Vignetten ermüdet. Für ihren künstlerischen Prozess würde man sich allerdings wünschen, dass sie demnächst genau diese Talente nutzt, um ein ambitionierteres sprich langatmigeres Werk anzugehen.
Info
„Was habe ich verpasst“, von Nora Wagener, 2021, Editions Guy Binsfeld, 146 Seiten, 22 Euro.
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