Menschenrechte / Kommissionspräsident Gilbert Pregno: „Solidarität schwindet, es mangelt an Empathie“
Seit mehr als 30 Jahren treibt Gilbert Pregno (70) die Achtung der Menschenrechte um. Als Psychologe, Familientherapeut und Mitglied der Menschenrechtskommission hat er viele Blickwinkel auf das Thema. Trotz einer unruhigen Welt und gespaltenen Gesellschaft pflegt er das Prinzip Hoffnung. Es ist sein letztes Interview als Präsident der Kommission. Die Funktion gibt er Anfang 2024 ab, das Thema aber nicht auf.
Tageblatt: Mehr als zehn Jahre Kampf für die „vernünftige Utopie“: So haben Sie die Idee der Menschenrechte einmal bezeichnet. Geht einem da nicht irgendwann die Puste aus?
Gilbert Pregno: Ich habe die Entscheidung, mich für Menschenrechte zu engagieren, bewusst getroffen. Sie gehören heute quasi zu meiner DNS. Aufgeben ist keine Option für mich, denn damit würden wir ja auch die Opfer im Stich lassen. Gerade von ihnen können wir alle lernen. Obwohl viele Unerträgliches erlitten haben, entscheiden sie sich für das Leben.
Ausschlaggebend ist, dass die ‚Kultur des Verdachts‘ geändert wird, nach der die meisten Asylbewerber einzig und allein vom System profitieren wollen
Gerade erst haben Sie sich kritisch gegenüber der „Direction de l’immigration“ geäußert, ohne die Arbeit der Beamten pauschal disqualifizieren zu wollen. Was ist der Mensch zwischen all den Zahlen wert?
Ein russischer Diktator hat mal gesagt: „Wenn ein Mensch stirbt, ist es ein Drama, wenn Tausend sterben, dann ist es Statistik.“ Für mich ist das Einzelschicksal wichtig. Bei den Geschichten, die ich höre, fehlt es der „Direction de l’immigration“ an Menschlichkeit und es gibt Vorgehensweisen, die die Asylsuchenden nicht unterstützen. Ich habe das Gefühl, dass der scheidende Minister dem nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Gibt es Ideen, wie man die Asylpolitik in Luxemburg menschlicher machen könnte?
Als Psychologe denke ich, dass die Menschen, die dort arbeiten, Mittel an die Hand bekommen sollten, zu verarbeiten, was sie da hören. Das ist keine einfache Arbeit. Ausschlaggebend ist allerdings, dass die „Kultur des Verdachts“ geändert wird, nach der die meisten Asylbewerber einzig und allein vom System profitieren wollen. Die gibt es, aber das darf in nicht in einen Generalverdacht ausarten.
Als Präsident sind Sie nicht glücklich über den Stellenwert der Menschenrechtskommission zwischen Staatsrat und anderen beratenden Gremien. Braucht die Menschenrechtskommission mehr Einfluss?
Ganz klar, ja. Unsere Empfehlungen beruhen immer auf viel Arbeit. Es ist eine Frage des Respekts für die Menschenrechte, unseren Gutachten Rechnung zu tragen. Das findet aber allenfalls in homöopathischen Dosen statt.
Wird sich das mit der neuen Regierung verändern?
Das wird sich zeigen. Es kommen jetzt Gesetzesvorhaben wie Videoüberwachung, Platzverweis, Eilverfahren oder Demonstrationsrecht, zu denen wir schon Gutachten abgegeben haben. Wenn sie dieses Mal im Vorfeld gelesen werden, hat man eine Idee, in welche Richtung es gehen kann … oder nicht.
Eine andere Baustelle ist die Kinder- und Jugendjustiz. Wo hakt es?
Die Kinderrechtskonvention wurde vor 33 Jahren ratifiziert und wir haben ein Kinderschutzgesetz, das in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts gehört. Die vorige Regierung hat ein Gesetzesprojekt dazu ausgearbeitet und es steht im Regierungsprogramm. Außerdem soll ein Jugendstrafrecht kommen. Das wäre für Luxemburg ein großer Fortschritt.
Mit der neuen Regierung erhält die Haltung, dass die Wirtschaft uns Lösungen bringt und der Wachstumsgedanke untrennbar damit verbunden ist, Aufwind. Der Planet wird also noch weiter ausgebeutet.
Um die Initiativen für ein nationales Lieferkettengesetz ist es erstaunlich still geworden. Befürchten Sie das endgültige Aus? Oder, noch schlimmer, ein „Alibigesetz“?
Viele Unternehmer hier im Land wollen das nicht. Als die NGOs in der Arbeitsgruppe hingeworfen haben, gab es kaum merkliche Reaktionen. Jetzt gibt es noch weniger Kritik oder Einsatz dafür, ganz wie man es sieht. Die EU-Direktive, die bald kommt, betrifft 0,4 Prozent aller im Land ansässigen Unternehmen. Es ist eigentlich zum Schämen. Dabei gehen Experten davon aus, dass ein nationales Lieferkettengesetz ein Standortvorteil ist.
Das hört sich nicht gut an …
Die Arbeitsgruppe auf Initiative des Außenministeriums dümpelt so vor sich hin. Ich persönlich hätte mir mehr Einsatz des damaligen Ministers gewünscht. Mit der neuen Regierung erhält die Haltung, dass die Wirtschaft uns Lösungen bringt und der Wachstumsgedanke untrennbar damit verbunden ist, Aufwind. Der Planet wird also noch weiter ausgebeutet.
Es stehen doch aber fast 18 Seiten zum Klimawandel im Koalitionspapier …
Das Koalitionspapier ist für mich eine riesige, aber unklare Partitur. Doch manchmal lese ich Melodien daraus. Eine davon ist ein ganz klares Pro für neoliberale Politik. Aber das war vorher schon so – nur unterschwelliger. Ich frage mich, was werden die heutigen Kinder in 50 Jahren über die aktuelle Politik und unsere Generation sagen? Hinzu kommt, unser Wahlgesetz verletzt die Demokratie, wenn man sieht, wie wenig Bürger mit ihrer Stimme entscheiden können.
Aus dem Ausland kommen gerade keine guten Nachrichten: Nach dem Überfall auf das Dorffest in Crépol hat der französische Innenminister von einer „Verrohung der Gesellschaft“ gesprochen. Sind wir so weit?
Die Solidarität schwindet. Es geht immer mehr hin zu Individualismus, bei dem die Menschen nur noch um sich selbst kreisen und sich nicht mehr als Teil einer Gesellschaft begreifen. Es mangelt an Empathie. Kinder und Jugendliche leiden sehr darunter. Ich habe nicht vergessen, wie einfach es war, während der Pandemie Freiheiten zu beschneiden, und ich habe nicht vergessen, wie gespalten die Gesellschaft am Ende der Pandemie war. Es gibt aber eben nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten, die uns Menschen verbinden.
Menschenrechte setzen Menschlichkeit voraus. Ist sie nicht gerade angesichts der blutigen Bilderflut aus dem Nahostkonflikt in Gefahr?
Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte gibt es seit 75 Jahren und sie wurde gemacht, um Frieden zu stiften. Deshalb ist es fürchterlich zu sehen, dass wir jetzt so viele kriegerische Auseinandersetzungen rund um den Globus haben.
Kann man überhaupt verhindern, dass Menschenrechtspolitik im Umfeld von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit mehr als nur bloßes Gerede an einem Gedenktag bleibt?
Ich finde es wichtig, dass Menschenrechtsaktivisten immer wieder das Wort ergreifen und sich einsetzen. Es sind nicht wenige. Wenn es ein Parlament der Menschlichkeit gäbe, dann wäre die größte Partei die der Stummen. Sich nicht zu äußern, ist ja auch eine Position. Aber damit lässt man Ungerechtigkeiten zu. Meine Hoffnung für die Zukunft liegt auf den jungen Generationen, für die die Menschenrechtsaktivisten Vorbilder sind.
Ihre persönliche Bilanz nach zehn Jahren als Präsident der Menschenrechtskommission?
Ich war ein Teil der Zahnräder, die in der Kommission ineinandergreifen, und habe meinen Beitrag geleistet. Fehlende politische Anerkennung prallt an mir ab, ich kenne das. Ich werde als einfaches Mitglied der Kommission weitermachen.
Zur Person
Gilbert Pregno studierte Psychologie in Nancy und stieg mit 25 Jahren als Psychologe ins Berufsleben ein – zunächst als Staatsbeamter. Diese Karriere verließ er, um in der Stiftung „Kannerschlass“ Kindern, Jugendlichen und deren Familien in Notlagen zu helfen. Diese Menschen, die er im Laufe seines Berufslebens kennengelernt hat, bezeichnet er im Rückblick als seine „Lehrer“. „Heute überrascht mich nur noch wenig“, sagt er und weiß: „Nur eine Therapie reicht nicht aus, das Umfeld ist genauso wichtig.“ So ist Pregno vor fast 30 Jahren zu den Themen Menschenrechte und institutionelle Gewalt gekommen. „Diese Ungerechtigkeiten konnte ich nicht stehen lassen“, sagt er.
Veranstaltungen
Am Sonntag findet in der Abtei Neumünster im Saal José Ensch ein Austausch zum Thema Menschenrechte statt. Veranstalter ist die Menschenrechtskommission. Der Europaabgeordnete Charles Goerens (DP) referiert zum Thema „75e anniversaire de la Déclaration universelle des droits de l’Homme: le moment est-il venu d’enterrer les droits humains?“. Beginn ist um 10 Uhr, der Eintritt ist gratis. Anmeldungen erfolgen per E-Mail an cristina.deangelis@ccdh.lu.
Ebenfalls am Sonntag findet an der Grenzbrücke zwischen Schengen und Perl ab 11 Uhr eine Mahnwache statt. Das Motto lautet „Menschenrechte gelten für alle! Solidarische Migrations- und Flüchtlingspolitik statt Abschottung! Nein zum Krieg!“. Veranstalter ist das grenzüberschreitende Netzwerk QuattroPax.
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2004 wurde ich aus dem Staatsdienst entlassen weil ich Empathiemangel und patriarchalisch-autoritären Überfluss beklagte. Nach drei gewonnenen Prozessen gegen den luxemburger Staat musste ich 2010 wieder eingestellt werden. Danach musste ich neun Jahre lang, bis zur Verrentung, entgegen dem Urteil des Verwaltungsgerichtes, mit meinen Schuldgefühlen in einem leeren Büro sitzen.
▪ Abgeseilt in den Tod. Bei Fluchtversuchen kamen binnen zehn Tagen zwei Patienten ums Leben. (…)
(Télécran, 14.08.1999)
▪ La loi muette. (24.09.1999) “ (…) La loi est muette sur les autorisations spéciales relatives aux modalités des soins sous contrainte, comme l’isolement, la contention physique et la médication imposée. Il y a des pays où il ne va pas de soi qu’un placement en service psychiatrique fermé, et à fortiori une hospitalisation librement consentie, aille de pair avec la carte blanche de faire usage, quelle que soit d’ailleurs l’expertise des intervenants, à l’isolement, à la contention et à la médication de force. Le comité européen pour la prévention de la torture et des peines ou traitements inhumains ou dégradants a insisté dans son rapport de 1993 de réglementer, ne fut-ce qu’à l’échelle de l’établissement encore et toujours concerné par l’exclusivité des placements au Luxembourg, les lignes de conduite à adopter dans les cas de soins psychiatriques sous contrainte. De nombreux ‚modes d’emploi‘ existent dans la littérature. Les comités d’éthique hospitaliers devraient à notre sens être consultés à ce propos, afin de prévenir, encore une fois, les dérives excessivement sécuritaires tant à l’extérieur qu’à l’intérieur de l’institution.“ S’il faut reconnaître que la loi de 1988 a le mérite par rapport à celle de 1880 d’avoir introduit le sujet de droit et les droits (et les libertés) de l’Homme, il convient en revanche de déplorer qu’elle est largement pervertie dans ses applications quotidiennes. Aussi, les droits du patient sont-ils baffoués par l’excès laissé à l’arbitraire et les resserrements sécuritaires de la société contemporaine. Remarquons qu’en Allemagne, où tout placement est décidé par le juge sur base d’une requête, d’un certificat médical et d’une audience du patient. (…)“
(Texte présenté au Xme Congrés de l‘ „Association Latine pour l’Ananalys des Systèmes de Santé“ (CALASS) à Luxembourg en date du 24 septembre 1999 par le Dr. Paul HENTGEN, Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique, 17, Avenue des Alliés, L-9012 Ettelbrück)
▪ Vor guten Absichten schützen (06.07.2021)
Von Melody HANSEN & Lex KLEREN, journal.lu.
▪ Satt, sauber, trocken – und frei? (25.05.2021)
Von Melody HANSEN & Lex KLEREN, journal.lu.
MfG
Robert Hottua
Ja die Menschenrechte. Ich vergleiche diese Kämpfer mit Bob Geldof der vor gefühlten 50 Jahren gegen den Hunger in der Welt antrat mit “ Konzerten gegen den Hunger“ aber auch mit dem Song. „The great song of indifference“..Hat sich etwas geändert?
8000 000 000 heißt die Wunderzahl