Editorial / Labour hat alle Chancen auf den Wahlsieg
Alles deutet darauf hin, dass Rishi Sunaks Tage als Premierminister gezählt sind. Denn seine regierenden Konservativen steuern bei den Wahlen zum britischen Unterhaus auf eine krachende Niederlage und ein historisch schlechtes Wahlergebnis zu. Unterdessen sind die Umfragewerte der rechtspopulistischen Partei Reform UK von Nigel Farage gestiegen. Der einstige Mitgründer der United Kingdom Independence Party (UKIP) und Brexit Party kann als Nemesis der Tories bezeichnet werden. Er würde gern die führende Kraft im rechten Lager werden.
In wechselnden politischen Inkarnationen setzt Farage die Konservativen seit Jahren unter Druck. Die Partei habe dem „Faragismus“ Tür und Tor geöffnet, bestätigt Samuel Earle, Autor von „Tory Nation“. Dabei war Sunak im Oktober 2022 als pragmatischer Macher angetreten. Mittlerweile gelingt ihm nichts mehr. Selbst die alte Masche seiner Partei, vor den Steuererhöhungen einer Labour-Regierung zu warnen, zieht nicht mehr. Die Rechtspopulisten haben ihnen darin den Schneid abgekauft.
Erst kürzlich provozierte Farage wieder, als er behauptete, der Westen hätte den Ukraine-Krieg mitzuverantworten. Seine Reform UK fordert außerdem eine „net zero migration“ und Großbritanniens Ausstieg aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, um Abschiebungen zu erleichtern. Auch in dieser Hinsicht treiben sie die Tories vor sich her, die deutlich nach rechts gerückt sind. Bekannt ist ihr Plan, zur Abschreckung von Asylsuchenden diese nach Ruanda abzuschieben. Dagegen lehnt Labour diese Pläne ab, schreckt aber vor einer klaren Position in der Migrationspolitik zurück.
Keir Starmer wird zwar häufig als farbloser Politiker beschrieben. Aber er dürfte der richtige Labour-Kandidat zum richtigen Zeitpunkt sein, nachdem seine Partei in den vergangenen 30 Jahren einen grundlegenden Wandel vollzog. Tony Blair hatte Labour bei seinem Antritt als Parteichef 1994 neu ausgerichtet. Statt Klassenkampf, Sozialismus und Verstaatlichung standen bei New Labour der sogenannte Dritte Weg und eine verstärkte Nähe zur Marktwirtschaft auf dem Programm. Das brachte Blair 1997 den Wahlsieg und dem Land eine Modernisierung und gesellschaftliche Öffnung, häufig mit „Cool Britannia“ umschrieben, aber auch den Verlust vieler Labour-Stammwähler.
Einen nicht geringen Teil dieser Wähler dürfte Starmer nun zurückgewinnen. Laut einiger Prognosen könnte Labour einen überwältigenden Sieg mit einer großen Mehrheit einfahren. Er profitiert nicht nur von der Krise der Tories und der Gespaltenheit des rechten Lagers, sondern auch von der Schwäche der Liberaldemokraten und Grünen. Dank des Mehrheitswahlrechts dürfte Labour eine absolute Mehrheit einfahren.
Auf der Website von Labour stehen Starmers erste Schritte zum Wandel: wirtschaftliche Stabilität schaffen, Wartezeiten im Gesundheitswesen reduzieren, ein neues Grenzsicherheitskommando und ein staatliches börsennotiertes Unternehmen für saubere Energie schaffen, gegen asoziales Verhalten vorgehen und 6.500 neue Lehrer in Schlüsselfächern einstellen, was sich mit Mehrwertsteuern auf Privatschulen finanzieren ließe.
Der Weg ist mit Schlaglöchern übersät. Und ob er sich als Vorbild für andere sozialdemokratische Partei in Europa eignet, ist ungewiss. „Keir Starmers ‚erste Schritte‘ könnten ihn in die Downing Street bringen. Aber es lauern Gefahren“, schrieb kürzlich John Martin McDonnell – einst Schatzkanzler im Schattenkabinett des linken Labour-Kandidaten Jeremy Corbyn, der 2019 die Wahl verlor – in The Guardian. „Dieses vorsichtige Programm ist zu begrenzt, um die Veränderungen herbeizuführen, die Großbritannien braucht – und die Labour an der Macht halten würden.“ Das Mantra von Labour heißt „Change“. Großbritannien hat den Wechsel nötig. Die Sozialsysteme sind marode, die Briten sind durchschnittlich 18 Prozent ärmer als die Deutschen und Franzosen, die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander. Ein Aufbruch muss her, doch die nötige Stimmung dafür fehlt noch.
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