Corona / Leben mit der Ungewissheit: Patient Benoît Chagras spricht über den Alltag mit Long Covid
War es vor einigen Wochen noch Gesprächsthema Nummer eins, ist Covid-19 mittlerweile aufgrund der tragischen Ereignisse in der Ukraine schnell aus dem Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Doch überstanden ist Corona noch nicht. Denn während sich unter anderem in Luxemburg die einen über das Aufheben der Mehrheit der sanitären Maßnahmen freuen, müssen Menschen wie Benoît Chagras weiter tagtäglich mit Einschränkungen leben – wenn auch gesundheitlicher Natur. Denn der 44-Jährige hat Long Covid.
Geradewegs blickt Benoît Chagras einen durch die Gläser seiner schwarz umrandeten Brille an. Ruhig sitzt er da, an einem Tisch in einer Ecke des „Le Paris“ – einer Bar sowie Restaurants in der avenue des Bains in Mondorf. Schon einmal war der 44-Jährige zuvor in dem Lokal zu Gast. Gelegenheiten dafür gab es eigentlich mehrere, immerhin verbringt Benoît Chagras im März drei Wochen in dem Ort an der Grenze von Luxemburg zu Frankreich. Denn der in der Nähe von Thionville lebende Mann hat Long Covid und macht in Mondorf eine Kur.
Rund ein Jahr ist es her, dass Benoît Chagras sich mit Corona infizierte. Seine Frau arbeitet als Pflegekraft und steckte sich wahrscheinlich bei der Arbeit an. Schon bald hat auch ihr Mann erste Symptome. Obwohl der 44-Jährige überzeugt von der Impfung ist, hat er zu dem Zeitpunkt noch keine Dosis erhalten – da er wegen seines Alters noch nicht infrage kam. Am 20. Februar 2021 wird Benoît Chagras positiv getestet. „Zuerst hatte ich Fieber und Kopfschmerzen, das ging. Aber eine Woche später konnte ich kaum mehr atmen“, erinnert er sich. In Frankreich geht der stark angeschlagene Mann zur Notaufnahme. Mehr als vier Stunden harrt er in einem sehr kalten Raum im Krankenhaus aus – dann holt seine Frau ihn ab. Ohne, dass er behandelt wurde.
Infektion mit Folgen
Am Tag danach begibt sich der in Luxemburg bei einer Firma für Technologiedienstleistungen tätige Abteilungsteiler in das „Centre hospitalier Emile Mayrisch“ (CHEM) in Esch. „Dort zeigte sich, dass 80 Prozent meiner Lungen betroffen waren. Unter ständiger Beobachtung wurde ich an ein Beatmungsgerät angeschlossen“, erzählt der Grenzpendler. Denn es besteht das Risiko von einem Herzstillstand oder Organversagen. Nach einer Woche geht es ihm besser und er hat wieder so viel Sauerstoff im Blut, dass er das CHEM verlassen kann. Fit ist er zu dem Zeitpunkt allerdings nicht. „Ich konnte nicht einmal 500 Meter gehen, ohne richtig müde zu werden“, erklärt Benoît Chagras. Zehn Kilo verliert er wegen Appetitlosigkeit.
Der Vater von drei erwachsenen Kindern bleibt zu Hause, um sich zu erholen. „Ich war noch nie krank. Ein einziges Mal habe ich bei der Arbeit wegen Grippe gefehlt“, erklärt der Mann, der keine Vorerkrankungen hat. Im April 2021 geht es ihm kurzzeitig besser. Doch schnell merkt Benoît Chagras, dass Corona nicht überstanden ist. „Den Geschmackssinn hatte ich zum Beispiel noch. Aber plötzlich war ich sehr müde und schlief viel. Ich hatte Probleme, mich auf etwas zu konzentrieren.“ Nicht einmal eine Serie kann er sich ansehen, ohne dabei den Faden zu verlieren. Der Familienvater vergisst Dinge, die ihm seine Kinder erzählt haben. Hinzu kommen starker Schwindel sowie Taubheit und Zittern der Hände. Die Symptome von Long Covid sind vielfältig – 200 sind bisher bekannt. Von Long Covid spricht man laut Weltgesundheitsorganisation dann, wenn die Anzeichen drei Monate nach der akuten Erkrankung anhalten.
Trotz andauernder Symptome nimmt der Abteilungsleiter ab Juni wieder seine Arbeit auf – in Teilzeit. Arbeiten soll er dann, wenn er sich gut fühlt. Doch er will sein Team nicht im Stich lassen, fühlt sich schuldig. Und so macht er seinen Job und hilft, wo er kann. „Wenn ich normalerweise eine Stunde für eine Aufgabe brauchte, waren es nun zwei oder drei. Am Wochenende habe ich nur geschlafen.“ Schwer fällt das alles dem Mann, der es laut eigener Aussage gewohnt ist, Dinge anzugehen und zu regeln. Da er vor allem im Homeoffice arbeitet, bekommen die Kollegen – die er als wohlwollend und entgegenkommend beschreibt – nichts von seinen Problemen mit. „Sie dachten, dass alles gut läuft“, erzählt der Long-Covid-Patient.
Hoffnung auf Besserung
Sechs Wochen geht das so – bis der Arzt sagt, dass Benoît Chagras wieder pausieren muss. Die Krankschreibung wird verlängert, erst im September 2021 kehrt er ins Berufsleben zurück. Denn obwohl ein Scan seiner Lungen im Juni zeigt, dass zumindest diese sich von der Erkrankung erholt haben, ist Benoît Chagras weiterhin müde. Sein Hausarzt in Frankreich schickt ihn zum Neurologen. Im Juli 2021 dann ein kleiner Hoffnungsschimmer: Ein Freund erzählt ihm von einem Pilotprojekt in Luxemburg, das sich um Patienten mit Long Covid kümmert.
Im September 2021 führt Benoît Chagras das erste Telefongespräch mit der Abteilung für Infektionskrankheiten des „Centre hospitalier de Luxembourg“ (CHL), um dann im Dezember – also rund drei Monate später – einen weiteren Termin vor Ort zu haben. Für viele Patienten ist das in ihrer ungewissen Situation eine lange Zeit. Und auch Benoît Chagras stellt fest, dass es bis zum zweiten Termin gedauert hat. Wohl auch wegen seiner schlechten Erfahrung in Frankreich zu Beginn seiner Erkrankung, sagt er aber: „Ich bin glücklich, dass es dieses Programm überhaupt gibt.“
Denn ihm macht es Angst, wie wenig zu Long Covid bekannt ist. „Niemand weiß, ob das alles bei mir nun für immer so bleibt – oder ob es wieder wie früher wird. Mit meiner Teilnahme am Programm trage ich dazu bei, dass die Krankheit besser erforscht wird“, erklärt Benoît Chagras sachlich. Nachdem er eine mehrstufige Prozedur mit Ausfüllen von Fragebögen, Krafttests und Sprechstunden durchlaufen hat, steht fest, dass in seinem Fall eine dreiwöchige Kur in Mondorf oder der Aufenthalt im „Rehazenter Luxemburg“ Sinn machen. Denn je nach Beschwerden werden Patienten in Luxemburg in verschiedenen Einrichtungen behandelt. Benoît Chagras entscheidet sich für Ersteres und beginnt im März 2022 mit 23 anderen Betroffenen seine Kur. Seit dem Beginn in August 2021 haben 69 Patienten das Programm im Thermalbad in Mondorf absolviert.
Geduld gefragt
Inzwischen hat der einstige Abteilungsleiter einen anderen Job als Netzwerkingenieur angenommen. „Das hat sich in dem Moment ergeben und es tut mir gut“, stellt Benoît Chagras fest. Besonders körperliche Anstrengungen fallen ihm immer noch schwer. „Ich habe immer gerne gewerkelt oder im Garten gearbeitet. Den Rasen zu mähen, ist allerdings kompliziert geworden“, erzählt er mit einem bedauernden Lächeln. In der Kur steigt er auf das Fahrrad, um den Körper wieder an Anstrengungen zu gewöhnen. In gemächlichem Tempo geht er schwimmen. Und: Er liest. „Die neurologischen Verbindungen wurden durch die Krankheit voneinander getrennt und müssen nun wieder miteinander verbunden werden. Das braucht Zeit“, erklärt er.
Verdacht auf Long Covid – was tun?
Wer vermutet, Long Covid zu haben, soll sich in Luxemburg in einem ersten Schritt an die Hausärztin beziehungsweise den Hausarzt oder das für die auftretenden Symptome zuständige Fachpersonal wenden. Erhärtet sich der Verdacht, werden Betroffene im Rahmen eines seit August 2021 laufenden Pilotprojektes für eine Videosprechstunde an die Abteilung für Infektionskrankheiten im „Centre hospitalier de Luxembourg“ (CHL) weitergeleitet. Sogenannte „Case-Manager“ – also eigens auf den Umgang mit Long Covid geschulte Fachkräfte – sammeln dann bei einem weiteren Termin vor Ort Informationen zum Gesundheitszustand der Betroffenen. Am Ende wird entschieden, welche Einrichtung am geeignetesten für die Behandlung der Symptome ist: ein Aufenthalt im hauptstädtischen CHL, im „Centre hospitalier neuro-psychiatrique“ (CHNP) in Ettelbrück, im hauptstädtischen Rehazentrum oder im Thermalbad in Mondorf. Laut Dr. Gaston Schütz, dem Generaldirektor des „Rehazenter Luxembourg“ und einem der Initiatoren des Pilotprojektes, beträgt die Wartezeit für ein erstes Gespräch mit dem Case-Manager aktuell rund einen Monat. Da dies zu lange sei, wurde kürzlich ein weiterer Fallmanager eingestellt. Rund 500 Anträge für eine Teilnahme am Programm wurden seit August 2021 eingereicht.
Wieviel Zeit das noch brauchen wird – das weiß Benoît Chagras nicht. Wie so vieles bei Long Covid, ist auch das noch ungewiss. Und doch sagt der Betroffene: „Ich denke, das Schlimmste liegt nun hinter mir. Ich merke, dass es so langsam besser wird. Die Schwindelgefühle sind weniger geworden.“ Und obwohl er noch vor drei Wochen in manchen Situationen wegen des Händezitterns nicht einmal eine Nachricht auf dem Handy tippen konnte, stellt er in dem Moment mit Freude fest, dass seine Hände während seinen Erzählungen ganz ruhig geblieben sind.
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Wünsche Benoît gute Besserung und viel Glück. Vielleicht hat er die Zeit als Betroffener seinem Namensvetter Ochs seine Meinung zu sagen über dessen „Geschwurbel“ um die Impfung. Denn mit einer Komplettimpfung hätte Benoît gute Chancen gehabt dieses schwere Krankheitsbild nicht durchmachen zu müssen.
Ochs liegt ja jetzt ein Jahr lang auf Eis und hat gut Zeit darüber nachzudenken.