/ „Leben wieder in einer Diktatur“ – Gabor Roszik war vor 30 Jahren Ungarns erster freier Abgeordneter
Vor 30 Jahren leitete der evangelische Pastor Gabor Roszik in Ungarn die Wende ein. Heute hofft der 65-Jährige auf eine neue Wende und den Sturz seines damaligen Mitstreiters Viktor Orban.
Von unserem Korrespondenten Manfred Maurer, Wien
Tageblatt: Sie wurden vor bald 30 Jahren als erster freier Abgeordneter ins ungarische Parlament gewählt. Was empfinden Sie beim Rückblick auf dieses damals historische Ereignis?
Gabor Roszik: Gerade in diesen Tagen denke ich sehr oft darüber nach. Denn Ende Dezember 1988 habe ich meinen offenen Brief an die kommunistische Parlamentsabgeordnete Ferencné Czervenka veröffentlicht, aus dem in meiner Heimatstadt Gödöllö eine Revolution entstand. Darin habe ich geschrieben, dass es Ungarn zwar ein bisschen besser geht als den anderen osteuropäischen Ländern, aber viel schlechter als im Westen, weil die Kommunisten 1956 den Volksaufstand niedergeschlagen hatten. Das Ungarische Demokratische Forum (MDF) hat ein Referendum organisiert, jeden Tag gegen die Kommunisten demonstriert, bis die Abgeordnete im April ihr Mandat zurückgelegt hat. Im Juli wurde ich bei der Nachwahl mit 70 Prozent der Stimmen ins Parlament gewählt.
Gabor Roszik
Am 22. Juli 1989 triumphierte ein evangelischer Pastor über Ungarns Kommunisten: Gabor Roszik wurde der erste frei gewählte Parlamentsabgeordnete des Landes. Der 35-Jährige gewann in der Stadt Gödöllö die Nachwahl, die das Ungarische Demokratische Forum (MDF) mit einem Referendum zur Absetzung der lokalen KP-Abgeordneten erzwungen hatte. MDF-Mitbegründer Roszik besiegte den KP-Kandidaten Laszlo Korosfoi mit 69 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang. Er wurde damals auch von der liberalen Jugendorganisation Fidesz unterstützt, die von einem gewissen Viktor Orban angeführt wurde. Nicht unterstützt wurde er dagegen von seiner Kirche: Deren damaliger Bischof war, wie sich herausstellte, ein kommunistischer Kollaborateur.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie heute zurückschauen?
Das war eine sehr wichtige Veränderung nicht nur in meinem Leben. Ich finde es sehr traurig, dass wir heutzutage in derselben Situation wie damals sind. Manchmal denke ich sogar, es ist schlimmer als vor 30 Jahren. Wir befinden uns in einer demokratischen Diktatur. Vor 30 Jahren wussten wir genau, wer der Feind ist. Heute haben wir eine Regierung, die sich konservativ und christlich-demokratisch nennt, aber gegen alle diese Prinzipien verstößt. 95 Prozent der Medien befinden sich in der Hand der Regierungspartei von Viktor Orban. Die ganze Gesellschaft ist derart manipuliert, dass viele Menschen glauben, alles sei in Ordnung in Ungarn.
Ungarn war einmal ein Vorreiter der Demokratisierung Osteuropas, heute ist es ein Sorgenkind Europas. Was ist da passiert?
Es hat schon angefangen in den Jahren von 2002 bis 2010, in denen die Sozialisten an der Macht waren. Vor acht Jahren war ich zwar auch nicht glücklich, als Orbans Fidesz-Partei die Wahlen mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewann, aber auch ich wollte ein Ende der sozialistischen Regierungen.
Was waren die Fehler der Sozialisten?
Zum einen war es die Korruption, auch wenn sie nicht das Ausmaß von heute hatte. Zum anderen hatte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány 2006 in einer an die Öffentlichkeit gelangten Geheimrede vor Parteifunktionären offen gesagt, dass er die Menschen jahrelang belogen habe, um Wahlen zu gewinnen.
Eine der treibenden Kräfte des Umbruchs war vor 30 Jahren Viktor Orban, dessen heutige Fidesz-Partei damals eine rebellische Jugendorganisation war, die auch Ihre Wahl in Gödöllö unterstützt hatte. Wie haben Sie den jungen Orban damals erlebt?
1988/89 hat mich Fidesz in Gödöllö unterstützt. Fidesz und Orban waren mir sehr sympathisch. Ich sah damals keinen großen Unterschied zwischen dem Demokratischen Forum und Fidesz. Wir kämpften gemeinsam gegen die kommunistische Diktatur.
Lernten Sie Orban da persönlich kennen?
Ja, er lud mich ein, als Abgeordneter eine Rede vor einer Fidesz-Versammlung zu halten. Orban war damals klar ein Liberaler. Das hat sich 1994 von einem Tag auf den anderen geändert, als die Sozialisten (mit Gyula Horn, Anm.) zurück an die Macht kamen.
Orban hat nur dank finanzieller Unterstützung des heute verhassten Milliardärs George Soros in Oxford studieren können. Wie erklären Sie sich seinen Wandel vom Vizepräsidenten der Liberalen Internationalen (1992 bis 2000) zum Autokraten, der die illiberale Demokratie predigt und gegen Soros hetzt?
Fidesz sagt einfach, dass die Situation damals eine ganz andere war und sich Soros zum Schlechten geändert habe.
Sie sehen das wohl nicht so?
Nein, Soros ist ein ganz fantastischer, großartiger Mann. Orban hat sich geändert vom Demokraten zu einem neuen kommunistischen Diktator.
Seit einigen Wochen gibt es wieder Proteste in Ungarn. Kann das Orban gefährlich werden?
Ich kann nur über meine Hoffnung sprechen. Ich hoffe sehr, dass die Demonstrationen dieses Jahr weitergehen. Erstmals sind sich nun alle Oppositionsparteien einig. Orban und seine Lakaien sagen, diese Proteste seien völlig bedeutungslos. Ich hoffe, dass sie sich irren. Leider gibt es in Ungarn eine große Lethargie, die nicht nur daraus resultiert, dass Orban fast alle Medien kontrolliert. Der Pessimismus hat auch eine gewisse Tradition. Viele glauben nicht daran, dass sich etwas ändern kann. Und viele interessieren sich nicht mehr für Politik.
Die Opposition tritt nun erstmals geschlossen auf. Das bedeutet aber auch,
dass Sozialdemokraten und Rechtsextreme auf einer Rednerbühne stehen. Wie geht das zusammen?
Die Unterschiede zwischen ganz Rechten und Linken sind gar nicht so groß. Es ist positiv, dass erstmals Rechte und Linke so stark gegen Orban auftreten.
Aber spätestens nach einem Sturz Orbans würden doch die ideologischen Differenzen zwischen rechts und links wieder aufbrechen?
Es geht ja nicht um eine Koalition, sondern etwa um Wahlbündnisse derart, dass die Parteien keine Kandidaten gegeneinander aufstellen. Ich unterstütze die Bewegung für ein Modernes Ungarn (Modern Magyarország Mozgalom, MoMa) von Ex-Finanzminister Lajos Bokros, die schon lange dafür eintritt, dass die Parteien geeint gegen Fidesz auftreten. Es sollte einen gemeinsamen Kandidaten gegen Orban geben.
Aber genau so ein charismatischen Oppositionsführer fehlt ja der Opposition? Sehen Sie Hoffnungsträger?
Leider sehe ich einen solchen nicht. Wir können nur beten, dass es so eine Persönlichkeit bald geben wird.
Wie soll Europa mit Orbans Ungarn umgehen?
Europa ist sehr wichtig für Ungarn. Ich erwarte mir, dass die Europäische Volkspartei (EVP) Fidesz ausschließt. Aber die EVP hat nicht den Mut dazu.
Aber EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat genau das zum Jahreswechsel gefordert.
Ja, ich denke wie Juncker, dass Fidesz keine konservative oder christdemokratische Partei ist, sondern ein demagogische, diktatorische, neu-kommunistische Partei.
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