Politikwissenschaftlerin / Léonie de Jonge findet: „In der Krise sind nationalistische Reflexe kontraproduktiv“
Für die Politikwissenschaftlerin Léonie de Jonge bietet die Corona-Krise die Möglichkeit, unsere Gesellschaft zum Besseren umzugestalten. Sie könnte eine Gelegenheit bieten, uns bewusst zu werden, warum liberale Demokratien autokratischen Regimen vorzuziehen sind – und die Grenzen des Neoliberalismus verdeutlichen.
„Das sind natürlich sehr faszinierende Zeiten für Politikwissenschaftler. Sie werfen eine ganz Reihe von Fragen auf.
Die erste Frage ist, ob Autokratien oder Demokratien besser geeignet sind, um mit Notsituationen umzugehen. Es gibt zum Beispiel Stimmen, die behaupten, dass Autokratien besser dafür geeignet sind. Auf den ersten Blick wirkt es so, weil die Pro-Kopf-Zahlen der Infizierten in den westlichen Demokratien tatsächlich höher scheinen als in vielen autoritären Ländern. Außerdem haben Autokratien ihre Bürger viel fester im Griff. Es ist darum einfacher, die Menschen dazu zu bringen, restriktive Maßnahmen einzuhalten, zum Beispiel durch Androhungen von Strafen. Zugleich fehlen wegen mangelnder Transparenz und der Unterdrückung kritischer Berichterstattung einfach die Daten. Das heißt, dass wir den Zahlen, die aus China, Russland und dem Iran kommen, wahrscheinlich überhaupt nicht trauen können.
Demokratien sind auf eine gut informierte Öffentlichkeit angewiesen. Das erfordert Einverständnis und Zusammenarbeit. Und das kann nur funktionieren, wenn Vertrauen in Medien, Behörden und Wissenschaft besteht. Transparenz ist meiner Meinung nach der Schlüssel zu diesem Vertrauen: Wenn Regierungen ehrlich sagen, wie sie die Risiken und Vorteile abwägen, dann können die Bürger ihre Führungskräfte zur Rechenschaft ziehen und somit auch den Verschwörungstheoretikern entgegenwirken. In den Niederlanden hat Mark Rutte beispielsweise deutlich erklärt, welche Strategie er verfolgt und wieso, und dann die Abwägungen klar mit den Bürgern geteilt, und mir scheint, dass das bei den Bürgern auf sehr viel Vertrauen stößt, dass die Bürger diese Transparenz schätzen. Sie fühlen sich von der Regierung ernst genommen.
Pandemie treibt politischen Opportunismus voran
Eine zweite Frage lautet, was die Krise für die Zukunft der EU bedeutet. Vor einem Monat sah es fast so aus, als hätte die EU diese Krise überwunden. Die Regierungschefs konnten sich endlich wieder dem langweiligen Streit über den EU-Haushalt widmen. Aber mit der Pandemie stürzt die Union wieder einmal in eine sehr tiefe Krise. Sie verfügt nicht über das nötige Mandat und die Reaktionsfähigkeit, um diese Krise zu bewältigen. Das besitzen die Mitgliedstaaten – und die setzen alle auf nationale Strategien. In jedem Land sieht es anders aus. Was man sieht, ist, dass es an Solidarität und Zusammenhalt fehlt. Das verringert auch die Aussichten für die Bewältigung von anderen dringenden Problemen, zum Beispiel dem Klimawandel und der Migrationskrise.
Außerdem treibt die Pandemie den politischen Opportunismus voran. Es ist ein Vorwand, um das europäische Recht zu missbrauchen. Zum Beispiel wurde vor drei Wochen der Green Deal unterzeichnet. Jetzt haben die tschechische Republik und Polen schon erklärt, dass sie wegen der Krise nicht mehr bereitet sind, für den Green Deal zu zahlen. In Ungarn wird die Krise völlig ausgenutzt. Das Parlament ist komplett außer Gefecht gesetzt. Das Gesetz, das heute angenommen wurde, gibt Orban die Freiheit, für unbekannte Zeit, direkt per Dekret und ohne Einschränkung des bestehenden Rechts zu regieren. Es ist völlig überzogen. Das bedeutet wahrscheinlich der endgültige Übergang auf ein autoritäres System in Ungarn. Das stellt viele Fragen für die Zukunft der EU.
Eine dritte Frage ist, was all dies für den Populismus bedeutet. Es gibt sehr viele Experten oder Möchtegern-Experten, die schon geschrieben haben, dass die Pandemie das Ende der Populisten bedeutet, weil es endlich jetzt ihre Inkompetenz zeigt. Aber meiner Meinung nach ist es viel zu früh, um irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen. Einerseits gibt es Populisten in Machtpositionen wie beispielsweise Donald Trump Bolsonaro, oder sogar Boris Johnson. Diese Populisten versuchen die Öffentlichkeit eindeutig mit Verschwörungstheorien abzulenken und reagieren sehr langsam mit sehr milden Maßnahmen. Aber es gibt auch viele Populisten in Oppositionen. Sie kritisieren die Regierungen und werfen ihnen Nachlässigkeit vor. Ich denke zum Beispiel an Wilders und Baudet in den Niederlanden, die viel Kritik an der Regierung ausüben. Das heißt, dass es keine einheitliche Reaktion von Populisten gibt. Es ist viel zu früh, um zu verallgemeinern, aber ich spüre bereits, dass Populisten in Machtpositionen jetzt unter den Folgen leiden und dass sie das Vertrauen in Medien und Behörden untergraben haben, weil dieses Vertrauen meiner Meinung nach der Ausweg aus der Krise ist.
Die Digitalisierung und das Erreichen der Klimaziele
In Moment steht natürlich vor allem die menschliche Tragödie im Vordergrund. Trotzdem oder gerade deshalb ist es wichtig, über das Leben danach nachzudenken. Ich glaube wirklich, dass jede Krise positive Auswirkungen haben kann. In erster Linie führt sie zur Entschleunigung und ermöglicht es uns, die Art und Weise, wie wir die Gesellschaft organisieren, zu überdenken. Sie könnte eine Gelegenheit bieten, um uns bewusst zu werden, warum liberale Demokratien autokratischen Regimen vorzuziehen sind. Und sie zeigt womöglich die Grenzen des Neoliberalismus auf, weil man jetzt die lähmenden Auswirkungen der Sparmaßnahmen sieht, zum Beispiel in Spanien.
Im akademischen Bereich erleben wir eine längst überfällige Digitalisierung. Von Akademikern wird oft erwartet, dass wir um die Welt fliegen, um irgendwo einen Vortrag zu geben. Jetzt müssen wir alles online gestalten. Und das funktioniert eigentlich überraschend gut. Auf einmal wird uns klar, dass wir nicht jede zweite Woche irgendwo hinfliegen müssen. Es geht auch auf anderen Wegen. Die Digitalisierung könnte direkt beitragen, die Klimaziele zu erreichen.
Letztendlich führt dies auch zur Erkenntnis, dass wir global sehr eng miteinander verbunden sind. Diese nationalistischen Reflexe, die wir jetzt sehen, scheinen mir kontraproduktiv, weil die Pandemie grenzüberschreitend ist und deshalb auch grenzüberschreitendes Krisenmanagement erfordert, das heißt Informationsaustausch, Produktion und Teilen von medizinischen Geräten und Wissen, und das könnte natürlich auf Dauer eine stärkere Zusammenarbeit in die Wege leiten. Die Krise bietet jedenfalls die Möglichkeit, unsere Gesellschaft zum Besseren umzugestalten, aber es liegt letztendlich an uns, was wir damit machen.“
- Un livre sur le colonialisme récompensé – Le choix de l’audace - 14. November 2024.
- Trois femmes qui peuvent toujours rêver: „La ville ouverte“ - 24. Oktober 2024.
- Une maison à la superficie inconnue: Les assises sectorielles annoncent de grands débats à venir - 24. Oktober 2024.
Ich wage einmal zu behaupten,dass nationalistische Reflexe IMMER kontraproduktiv sind.
Liebe Frau de Jonge, wer die letzten Wochen die Politik in Deutschland verfolgt hat , den müsste es grausen , müsste hinterfragen , wieweit die Regierung in Deutschland sich in populistische Gefilde gewagt hat , von Entscheiden im Sinne der AFD , unsolidarischen Handeln , CDU Gremien Aussagen über die Infragestellung der europäischen Zukunft, ……Wer glaubt die EU bestehe nur aus Reisefreiheit, Warenverkehr, Lobbyismus der hat vom europäischen Gedanken nichts verstanden. Wichtigste Eckpfeiler der EU sollten Humanismus, Solidarität und Soziales sein, doch auch in dem Sinne haben Deutschland , die Niederlande,Österreich ,..wohl andere Ansichten , liegen ihnen Euro Bonds nicht am Herzen , da ist ein Remake im Style Griechenlands wahrscheinlicher, Italien ausbluten und auf dessen Kosten gesundstoßen.
Das sind sie immer!
In dem Falle sind wir auch eine Autokratie. Jeden Morgen tönt aus dem Radio: ‚und die Polizei ist angehalten Kontrollen zu machen.‘ Mit dem impliziten Verweis auf die 145 Euronen Strafe.