Theaterkritik / „Let Me Die Before I Wake“: Dieses Stück gehört begraben
Bei der Kreation „Let Me Die Before I Wake“ von Renelde Pierlot ist der Titel Programm. Denn das Stück ist so schlecht, dass man während der Aufführung tausend Tode stirbt. Eine Rezension.
Für den ahnungslosen Zuschauer, der noch nicht weiß, was auf ihn zukommen wird, klingt der Text zu „Let Me Die Before I Wake“ auf der Internetseite des Kapuzinertheaters vielversprechend – wenn nicht sogar verheißungsvoll. Es gehe um den „Bestattungsritus an sich, wie er sich in verschiedenen Kulturen manifestiert, artikuliert, gelebt und gesehen wird“. Oha. Ein Künstler bürdet sich viel auf, wenn er eine Sache „an sich“ behandeln möchte. Wenn er, einen ihr immanenten Kern voraussetzend, sie erfassen und auf die Leinwand, aufs Papier oder eben auf die Bühne bannen möchte – aber man gewährt der Inszenierung einen Vertrauensvorschuss. Immerhin würden sich in ihr „Musik, Sprache und Bewegung“ begegnen, versichert der Text, auch spielten die vier Elemente, also Erde, Wasser, Luft und Feuer, eine Rolle. Das Interesse ist geweckt. Bis die Darbietung anfängt.
Zunächst: In dem Stück wird mehr musiziert als gesprochen. Erzählt wird keine zusammenhängende Geschichte, sondern Zustände, Vorgänge, Abläufe im thematischen Radius von Tod und Trauer. Dazu wird auf die verschiedensten Mittel zurückgegriffen, unter anderem auf Tanz, Schauspiel und, wie gesagt, Musik. Diese scheint für den Gegenstand von „Let Me Die Before I Wake“ durchaus angebracht. Immerhin macht sie das Schiefe, Unkontrollierbare und Unbestimmbare des Sterbens einerseits und des Abschiednehmens andererseits fassbar und kehrt damit das Innerste nach außen. Die Disharmonien lösen sich immer wieder kurzzeitig in wohlklingende Tonfolgen auf, nur um sich dann wieder in ihrer ganzen wuchtigen Brüchigkeit zu entfalten. Auch rhythmische Sequenzen werden, unter Gebrauch von Rasseln und Trommelschlägen, eingefügt. Da diese seit jeher Riten und Zeremonien begleiten, dürfen sie hier nicht fehlen.
Klappe zu, Affe tot
Die Musik ist natürlich ungewohnt und manchmal schmerzt sie durch das Schaben der Instrumente in den Ohren. Gut so, denn dass sie viel von dem Zuschauer fordert, dass sie ungemütlich ist und durch ihre Schrillheit dafür sorgt, dass sich einem die Nackenhaare aufstellen, ist angemessen. Es sollte angesichts des Themas gar nicht anders sein. Nein, dass die Produktion misslungen ist, hat ganz andere Gründe. Um die Hauptursache gleich vorwegzunehmen: Das Stück strotzt vor unfreiwilliger Komik, was bei dem Sujet natürlich besonders schwer wiegt. Ein Beispiel: Die Schauspielerin Rhiannon Morgan tanzt, man könnte fast sagen, quirlt wie besessen durch den Raum, dreht sich immer wieder um ihre eigene Achse, ihr schwarzes Kleid flattert, sie keift und lärmt und ächzt mit weit aufgerissenem Mund und macht es sich dann mit krampfartigen Hüftbewegungen in einem Grab (genauer: auf einem Skelett in einem Grab) gemütlich.
Die Szene wirkt skurril oder, um es frei heraus zu sagen, lächerlich. Als Zuschauer fragt man sich, was das soll – eine Frage, die man sich bei etlichen Szenen stellt. Während der Inszenierung beschleicht einen das Gefühl, dass eine Handvoll Ideen – wie hier die Verbindung zwischen (sexuell aufgeladener) Ekstase und Tod – bis ins Groteske aufgeblasen wurden, um anderthalb Stunden zu füllen. Aber einen Augenblick, Morgan ist noch nicht fertig: Jetzt steht sie mit angewinkelten Knien und gespreizten Beinen über dem Skelett und zuckt und schreit wie bei einer orgasmischen Geburt. Und siehe da: Später hält sie den Schädel des Skeletts über ihren Kopf wie der Affe Rafiki aus „König der Löwen“ den kleinen Simba. Fast ist man ergriffen.
Mit Möbelstücken balzen
Es ist nicht die einzige Szene, die ungewollt amüsant ist. Ob nun die Schauspielerin Aliénor H. minutenlang mit einem leeren Stuhl schäkert oder sie, ihre Rolle peinlich übertreibend, kurz als Figur aus dem Drama „Antigone“ auftritt, „Let Me Die Before I Wake“ birgt viele drollige Momente. Jene, die es nicht sind, sind oft, nun ja, sterbenslangweilig. Durch eine nicht enden wollende Einbalsamierungsszene hatte Pierlot wohl Spannung erzeugen wollen, doch man fühlt sich so eingelullt, als ob man selbst gerade auf dem Tisch liegen und mit Leintüchern umwickelt werden würde. Die Raumgestaltung tut ihr Übriges, um den Zuschauern den Zugang zum Stück zu erschweren, sitzt man doch auf schmalen und ungemütlichen Holzbänken, zusammengedrängt wie Hühner auf der Stange. Corona-gerecht sieht anders aus und so behalten einige Vorsichtige ihre Maske die ganze Zeit über lieber an. Man kann es ihnen nicht verdenken, immerhin kann man jeden einzelnen Schweißtropfen und sogar den Rotz, der den Schauspielern aus der Nase läuft, aus nächster Nähe betrachten.
„Let Me Die Before I Wake“
Schauspieler: Maël Guennou, Aliénor H., Rhiannon Morgan, Francesco Mormino, Christel Schockmel-Leibeck
Musik: United Instruments of Lucilin
Konzeption und Regie: Renelde Pierlot
Szenografie und Kostüme: Christian Klein
Lichttechnik: Fränz Meyers
Tontechnik: Joël Mengen
Regieassistenz: Jonathan Christoph
Produktion: Les Théâtres de la Ville de Luxembourg
Koproduktion: United Instruments of Lucilin
Was besonders sauer aufstößt: Noch vor Beginn der Vorführung werden die Zuschauer gebeten, den Namen eines Verstorbenen, der ihnen lieb war, auf ein Stück Papier zu schreiben. Die Namen werden von einer Person an der Kasse kopiert und am Anfang von „Let Me Die Before I Wake“ vorgelesen. Später soll man dann den Zettel, den man die ganze Zeit über mit einer Kerze in der Hand hielt, in ein Feuer werfen. Es werde ja Zeit, „die Toten gehen zu lassen“. Mauvais goût oder künstlerischer Twist? Darüber ließe sich sicherlich streiten, wäre die ganze Vorstellung nicht so banal, dass diese Bitte zu einer weiteren Zumutung verkümmert. Die Erinnerung an „Let Me Die Before I Wake“ sollte man jedenfalls, vielleicht genauso wie die Toten, nach dem Abend gehen lassen.
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