Migration / Libysche Asylsuchende – eine Familie im Ungewissen
Einer libyschen Familie droht die Rückführung in ihr vom Bürgerkrieg zerrüttetes Heimatland, obwohl die Mutter schwer erkrankt ist und die Kinder teils bestens qualifiziert für den hiesigen Arbeitsmarkt sind.
Seine schneeweiße Jacke leuchtet aus der Menschenmenge heraus, die am Nachmittag ins Einkaufszentrum in Kirchberg gekommen ist. Er stellt die Einkaufstüten ab und bestellt sich ein Getränk. Seinen richtigen Namen will Ali nicht in der Zeitung lesen. Deshalb haben wir uns auf ein Pseudonym geeinigt. Die Geschichte seiner Familie hat der 33-Jährige bereits mehrmals geschildert. Einige Elemente daraus sind in der vergangenen Woche bereits in den Medien erwähnt worden. Auch dass die libysche Familie, bestehend aus Ali, seinen beiden Brüdern und seinen beiden Schwestern zwischen 50 und 26 Jahren sowie seiner 72-jährigen Mutter, vorerst in ihrer Kirchberger Unterkunft bleiben darf. Zumindest bis zum 14. November – nachdem sie zuvor vom „Office national de l’accueil“ (ONA) einen Bescheid erhalten hatte, die Struktur bis vergangenen Montag zu verlassen.
Der Antrag der libyschen Familie auf internationalen Schutz war bereits per Gerichtsurteil am 23. Mai 2023 abgelehnt worden. Die „Direction générale de l’immigration“ habe mit ihr einen Termin vereinbart, bei der die Familie vorstellig wurde. Dabei sollte es um eine freiwillige Rückkehr in ihr Herkunftsland gehen. Doch die Familie lehnte diese ab. „Meine Mutter ist aufgrund einer chronischen Niereninsuffizienz nicht transportfähig“, sagt Ali. „Sie sitzt nach drei Knieoperationen im Rollstuhl und muss dreimal in der Woche zur Dialyse in die Klinik. In Libyen wäre dies sowieso nicht möglich. Wir können wegen der politischen Lage nicht dorthin zurück. Zurückkehren ist keine Option.“
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) handelt es sich bei Libyen um einen „failed state“, also um alles andere als einen sogenannten sicheren Drittstaat. Seit dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi 2011 wird das Land von gewaltsamen Konflikten erschüttert. „Die politische Instabilität, der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und der Wirtschaft prägen das tägliche Leben der Menschen in dem nordafrikanischen Land“, lautet eine Mitteilung des UNHCR vom 24. Juli. Libyen wurde zudem am 10. September 2023 von einer Unwetterkatastrophe heimgesucht, bei der etwa 6.000 Menschen ums Leben kamen. Zurzeit sind nach UN-Angaben in dem Land rund 823.000 Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Bevölkerung leidet unter der mangelnden Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser, die Gesundheitsversorgung und das Schulwesen sind stark beeinträchtigt. Außerdem leben mindestens 65.000 Flüchtlinge in dem Transitland, von denen 62 Prozent aus dem Sudan stammen. Laut einiger Quellen wurde fast ein Drittel der libyschen Bevölkerung während des Zweiten Libyschen Bürgerkrieges (2014-2020) gezwungen zu fliehen. Nach den Angaben des Welternährungsprogramms mussten 435.000 Libyer ihre Heimat verlassen. Seit dem Ende des Bürgerkrieges im Juni 2020 scheint der Konflikt eingefroren, Libyen bleibt jedoch zwischen zwei konkurrierenden Regierungen und den Einflusssphären rivalisierender Milizen gespalten.
Vorerst Aufschub
Für Ali sind dies neben der gesundheitlichen Situation seiner Mutter, die neben der Niereninsuffizienz wegen der Ungewissheit unter psychischen Problemen leidet, alles Gründe, weshalb die Familie nicht zurückkehren kann. Die Familie ist nun fünf Jahre in Luxemburg. Man habe ihr geraten, aus humanitären Gründen Asyl zu beantragen. Zwar hatte der Anwalt der Familie einen Antrag auf Verlängerung des Aufenthalts eingereicht. Unterdessen blieb sie mehr als ein Jahr in der Kirchberger Struktur. Bei dem Antrag handelte es sich um einen „sursis à l’eloignement“, um einen Abschiebungsaufschub, der gewährt werden kann, wenn eine Person etwa aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, das Land zu verlassen. Der Aufschub kann auf Familienmitglieder, die die betroffene Person begleiten, ausgeweitet werden.
Damit wurde auch die Entscheidung, die Familie aus der Wohnung zu verweisen, ausgesetzt. Dass der Antrag auf Aufenthaltsverlängerung zurzeit bearbeitet werde, wie es von offizieller Seite heißt, ändert nichts an der Tatsache, dass die Familie nicht nach Libyen zurückkehren könne. Einer seiner Brüder sei psychisch erkrankt und musste im CHNP in Ettelbrück stationär behandelt werden, sagt Ali. „Er wurde in Libyen entführt“, erzählt er, „nach seiner Freilassung war er ein anderer. Er hat große Angst vor einer Rückkehr.“
Härtere Gangart
Das Schicksal der libyschen Familie fügt sich in die neue Gangart der Regierung in der Migrationspolitik ein. Es ist eine härtere Gangart. Nach den Vorstellungen des für Migration zuständigen Innenministers Léon Gloden (CSV) sollen mehr abgelehnte Asylbewerber in ihre Herkunftsländer schneller abgeschoben werden. Luxemburg schloss sich dabei einer Initiative Österreichs und der Niederlande an. Kürzlich unterzeichneten mehrere europäische Regierungen – neben EU-Staaten auch Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein – ein Positionspapier, um einen „Paradigmenwechsel“ in der EU-Asylpolitik einzuleiten und eine höhere Rückführungsquote der EU zu erreichen. Damit wird die EU-Kommission aufgefordert, einen neuen Vorschlag für die Reform der EU-Rückführungsrichtlinie vorzulegen. Die niedrige Rückführungsquote ist vor allem auf die mangelnde Bereitschaft verschiedener Herkunftsländer zurückzuführen, die Geflüchteten wieder zurückzunehmen. Nun sollen die abgelehnten Asylbewerber schneller und effizienter abgeschoben werden. Nach wie vor vergeht viel Zeit zwischen der definitiven Ablehnung der Asylbewerber und ihrer Rückführung: 2023 erhielten 484.160 Menschen die Aufforderung, die EU zu verlassen, aber nur 18,9 Prozent kamen ihr nach.
In einem Interview mit Radio 100,7 sagte Gloden, er sei nicht gegen Rückführungszentren in Drittstaaten, allerdings gegen das sogenannte Ruanda-Modell der ehemaligen britischen Regierung, eher für das zwischen Italien und Albanien vereinbarte Modell, demzufolge die Flüchtlinge über das Mittelmeer verschifft werden und ihre Asylprozedur in dem Balkanstaat durchlaufen. „In der Praxis ganz schwierig“ hält Luc Frieden dies, er sei aber bereit, sich das anzuschauen. Er spricht sich eher dafür aus, Asylanträge an den Grenzen der EU zu bearbeiten.
Beim Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs zeigte sich einmal mehr, dass die Meinungsverschiedenheiten bestehen bleiben und die einzelnen Staaten verschiedene Wege gehen: Neben Italiens Albanien-Deal sind dies etwa die Grenzkontrollen der Deutschen. Einigkeit besteht darin, dass „die illegale Migration besser in den Griff bekommen“ werden müsse, „auch um Schengen zu schützen“, wie Luc Frieden sagt. Die Personen, die sich illegal in der EU aufhielten, neben jenen, deren Asylantrag abgelehnt worden sei, müssten wieder zurückgeführt werden. Dabei zeigen die jüngsten Zahlen der Europäischen Grenzschutzagentur, dass die registrierten „irregulären Grenzübertritte“ in die EU in den ersten neun Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 42 Prozent zurückgegangen sind.
Ignorierte Fachkraft
Legale Migration sei ein „wichtiger Punkt“, so Frieden. Denn zugleich beklagen die EU-Staaten einen Fachkräftemangel. Doch der Zugang für Asylbewerber zum Arbeitsmarkt erweist sich nicht selten als schwierig. Mit einem negativen Asylbescheid besteht kaum eine Chance auf Vermittlung bei der Adem. Umso unverständlicher ist es, dass Ali abgeschoben werden soll. Schließlich ist der 33-Jährige ein ausgebildeter Anästhesie- und Intensivkrankenpfleger. Sein Vater, ein Bauunternehmer, starb an Krebs, als Ali 18 war. Er habe Verwandte in Belgien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, sagt er. Eine seiner Schwestern besitze einen Mastertitel in Englisch, seine beiden Brüder seien Geschäftsleute. Sie könnten dem Großherzogtum ökonomisch durchaus nützlich sein. Für Aufsehen hatte vor kurzem der Fall des Fotografen und Architekturabsolventen der Uni Luxemburg Alborz Teymoorzadeh gesorgt, dessen Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert worden war – mit der Begründung, dass er keinen wirtschaftlichen Mehrwert bringen würde.
Stattdessen wird der Diskurs über eine zunehmende Abschottung Europas verschärft. Die Abhärtung ist Programm geworden. Während an Europas Peripherie ein „Gürtel der Gewalt“ etabliert wird, Bürgermilizen und Grenzpolizisten Treibjagden auf Geflüchtete veranstalten, wie es die Journalistin Franziska Grillmeier in ihrem Buch „Die Insel“ (2023)* über den Ausnahmezustand an den Rändern des Kontinents beschreibt, eine Praxis der Ausgrenzung und der Rechtsbrüche als Teil einer „Politik des Sterbenlassens“, werden etwa hier im Land nützliche Arbeitskräfte demotiviert, obwohl sie lieber früher als später arbeiten würden – oder wie es Ali ausdrückt: „Wir sind nicht gekommen, um nichts zu tun.“
*) Seit 2015 gab es 30.733 „border deaths“, Grenztode, die Dunkelziffer liegt um ein Zigfaches höher.
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