Editorial / Linke Parteien zwischen „woke“ und traditioneller Wählerschaft
Ob links, Mitte-links oder grün: Parteien vom linken Teil des politischen Spektrums waren in den vergangenen Jahren nicht gerade vom Erfolg verwöhnt. Dies gilt für viele Länder. Ausnahmen wie der Wahlsieg der deutschen SPD bei den Bundestagswahlen 2021 bestätigen die Regel, die jüngeren Umfragen und Wahlresultate weisen auf eine Fortsetzung des Niedergangs der sozialdemokratischen Partei hin.
Es gibt mehrere Gründe für den Negativtrend. Allgemein lässt sich sagen: „Die Linke spricht nicht mehr für die Arbeiter.“ Mit diesen Worten brachte es der US-Ökonom Daron Acemoglu kürzlich auf den Punkt. Er warf insbesondere den Parteien der linken Mitte vor, die Interessen ihrer Kernwählerschaft zu verraten. In den USA wählen Bürger mit einem Hochschulabschluss überwiegend links, während die Mehrheit der Arbeiter für Donald Trump stimmen. „Überall hat eine gut ausgebildete Elite die Mitte-links-Parteien übernommen“, stellte Acemoglu fest. „Ihre Politik und ihre Rhetorik zielen nicht mehr auf die Arbeiter, sondern auf das, was einer gut qualifizierten Oberschicht wichtig ist.“ Und das, obwohl Joe Biden die Rechte der Arbeitnehmer verbesserte, für höhere Mindestlöhne eintrat und die Gewerkschaften unterstützte.
Die angesprochene Entwicklung setzte spätestens in den 90er Jahren unter Staats- und Regierungschefs wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder mit ihrer Politik des „dritten Wegs“ zugunsten von Liberalisierung und der multinationalen Unternehmen ein. Doch auch die Gesellschaften haben sich geändert. Wie etwa hierzulande. Der frühere LSAP-Parteipräsident Ben Fayot erklärte im Januar 2018 in der Revue, dass die LSAP mit ihrem Namen zwar noch in der Tradition der gewerkschaftlichen Bewegung stehe, doch „die Arbeitermassen wie damals im Süden des Landes gibt es nicht mehr“. Die Bevölkerungsschicht der einfachen Leute bestehe heute weitgehend aus Nicht-Luxemburgern – die aber bei Parlamentswahlen nicht wählen dürfen.
Die LSAP hat sowohl bei National- als auch Europawahlen seit 1984 einen kontinuierlichen Wählerschwund erlebt. Zuletzt gelang den Sozialisten jedoch eine Trendumkehr. Bei den Europawahlen im Juni legten sie um knapp zehn Prozent zu. Derweil erlebte in Frankreich der Parti socialiste (PS) bei den vorgezogenen Parlamentswahlen eine kleine Wiederauferstehung im Rahmen des Nouveau Front populaire (NFP), obwohl in dem linken Bündnis Jean-Luc Mélenchons La France insoumise dominierte. Der NFP erreichte die relative Mehrheit. Derweil siegte in Großbritannien die Labour Party mit absoluter Mehrheit. Links scheint plötzlich wieder die politische Richtung zu sein.
Doch der Schein trügt: Labour schickte die Konservativen, die sich selbst diskreditiert hatten, auf die Oppositionsbank. Und in Frankreich verhinderte die linke Wahlallianz in Absprachen mit dem Mitte-Bündnis Ensemble den sich im ersten Wahlgang abzeichnenden Triumph des Rassemblement national (RN). Bei den Europawahlen war der rechtsextreme RN deutlich stärkste Partei und hatte seinen höchsten Stimmanteil in der Arbeiterschaft. Dies schien die These des französischen Autors Didier Eribon in seinem Bestseller „Retour à Reims“ (2009) zu bestätigen. Darin erklärt er den Aufstieg der Rechtsextremen aus dem Versagen der Linken und ihrer Hinwendung zur neoliberalen Politik, was zum Abdriften im Wahlverhalten der Arbeiterschaft vom Sozialismus und Kommunismus hin zum RN geführt habe.
Dies bedeutet aber keineswegs, dass sich die Linke nun vom Engagement gegen rassistische, sexistische und homophobe Diskriminierung ab- und verstärkt wieder dem Klassenkampf hinwenden soll. Um das Ziel einer linken Hegemonie zu erreichen, gehören Antidiskriminierung und Selbstbestimmung, „woke“ und soziale Gerechtigkeit zusammen. Dies dürfte für manche wie ein Spagat sein, ist aber ein linker Auftrag der Zukunft.
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