Interview / Linken-EU-Spitzenkandidat Walter Baier über Doppelmoral und doppelte Krise
Der promovierte Ökonom und politische Koordinator des Forschungs- und Bildungsnetzwerks „transform! Europe – european network for alternative thinking and political dialogue“, Walter Baier, wurde im Dezember 2022 Präsident der Europäischen Linken, für die er bei den Europawahlen als Spitzenkandidat für den Vorsitz der Europäischen Kommission ins Rennen geht.*
Tageblatt: Herr Baier, Sie sind Spitzenkandidat der Europäischen Linken für die Europawahlen. Seit Monaten ist die Rede von einem befürchteten Rechtsruck bei den Wahlen. Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass rechtspopulistische und rechtsextremistische Parteien in fast allen Ländern Europas Erfolge feiern?
Walter Baier: Das ist Ausdruck einer doppelten Krise. Die eine Krise ist eine soziale und wirtschaftliche – die schwierigen Lebenssituationen, in denen sich viele Europäer und Europäerinnen befinden, die hohen Mieten, die Prekarität der Arbeitsplätze und die soziale Unsicherheit, die mit der Digitalisierung und der notwendigen ökologischen Transformation einhergeht –, sie müsste durch eine an den Menschen orientierte Sozialpolitik aufgefangen werden. Den Menschen müsste Sicherheit gegeben werden. Das ist das prinzipielle und tiefste Problem. Dann gibt es noch ein kulturelles und moralische Problem, das darin besteht, dass die etablierten Parteien und insbesondere die Konservativen die „Brandmauer“ gegen rechts niedergerissen haben. Ich diskutierte mit Ursula von der Leyen, die sagte, dass ihre Brandmauer nun rechts von Giorgia Meloni verlaufe. Ins Praktische übersetzt: Wenn sie Meloni braucht, um Kommissionspräsidentin zu bleiben, dann wird sie auch mit der EKR (die Europäischen Konservativen und Reformer; Anm. d. Red.) zusammenarbeiten. Die EKR ist die Europapartei der Franco-Verehrer von Vox in Spanien oder der polnischen Recht- und Gerechtigkeitspartei, die wegen ihrer Angriffe auf den polnischen Rechtsstaat in der Kritik steht. Die Übernahme der Agenda dieser Parteien zum Beispiel in der Migrationspolitik hat einen kulturellen und moralischen Schaden angerichtet. Diese beiden Faktoren zusammen sind für den Aufstieg der radikalen Rechten verantwortlich.
In Ihrem Herkunftsland Österreich konnten sogar Skandale wie die Ibiza-Affäre der FPÖ nichts antun? Sind die Rechtsextremisten mittlerweile immun? Oder anders gesagt: Ist rechts inzwischen Mainstream?
Elemente ihres Diskurses sind schon lange Zeit Mainstream, weil die etablierten Parteien sie in ihre eigene Agenda übernommen haben. Man merkt das jetzt beim Migrationspakt ganz deutlich. Dabei wird nicht mehr darüber gesprochen, dass es um Menschen geht, die individuelle Rechte auf Asyl haben, sondern nur noch über Verhindern von Migration. Es wird über Zahlen geredet und nicht über Menschenrechte. Dafür tragen die etablierten Parteien die Verantwortung.
Wie ist der Vormarsch der Rechten zu stoppen? Was kann dagegen getan werden?
Da gibt es das Beispiel Spanien. Dort hat eine progressive Regierung aus Sozialdemokraten, Linken und linken nationalen Gruppierungen eine Reihe von wichtigen sozialen Reformen, zum Beispiel den Mindestlohn und Mietobergrenzen eingeführt. Damit wurde der Angriff der radikalen Rechten, die bereit waren, mit den Konservativen eine Regierung zu bilden, abgewehrt. Oder ich nenne die österreichischen Fälle Graz und Salzburg, wo die Sozialpolitik der KPÖ dazu führt, dass die FPÖ keinen Fuß auf den Boden kriegt. Es gibt also Beispiele, dass man mit der Sozialpolitik den Aufstieg der radikalen Rechten bremsen kann.
Sie treten unter anderem für eine Mietpreisbremse ein. Warum lässt sich das so schwer durchsetzen? Und was kann auf europäischer Ebene in dieser Hinsicht getan werden?
Indem zum Beispiel eine Direktive beschlossen wird, die die Mitgliedstaaten zur Einführung von Mietobergrenzen verpflichtet, oder zum rechtlichen Verbot von Zwangsräumungen von Primärwohnsitzen. Man muss Widerstände überwinden und man braucht Politiker und Politikerinnen, die sich dieser Agenda verpflichten.
In Österreich hat die KPÖ auf kommunaler Ebene Erfolge erzielt: Elke Kahr wurde in Graz Bürgermeisterin, Kay-Michael Dankl landete in Salzburg in der Stichwahl. War das bewusste Setzen auf soziale Themen das Erfolgsrezept?
Ja. Denn ich glaube nicht, dass die Leute per se ausländerfeindlich sind oder Hassreden gegenüber aufgeschlossen sind. Es ist die Frage der Alternative, die die KPÖ anbot, auch in Innsbruck und in Wien. Ich glaube nicht, dass man die europäische Politik ausschließlich aus der Perspektive des drohenden Rechtsrucks beurteilen kann.
Was ist das Besondere an der KPÖ? Im Vergleich zu anderen Parteien, die zur europäischen Linken gehören, trägt Ihre noch den alten Namen. Ticken in Österreich die linken Uhren anders?
Die KPÖ hat sich in den 90er-Jahren radikal verändert. Sie ist heute eine moderne, demokratische Linkspartei wie „déi Lénk“ in Luxemburg. Sie entschied sich für die Beibehaltung des Namens hauptsächlich aufgrund des antifaschistischen Erbes, auf das die Partei mit Recht stolz ist. Das zweite wichtige Element ist, dass sie nie eine sektiererische Partei war. Sie hat immer über Wurzeln in den Kommunen und in den Gewerkschaften, in den Universitäten und unter Künstlern und Künstlerinnen verfügt. Drittens, und das ist wirklich eine Besonderheit: Vor drei Jahren beschloss die Jugendorganisation der Grünen, sich der KPÖ anzunähern. Viele von ihnen sind Mitglieder der KPÖ geworden und bilden heute deren Führung. Es war eine sehr weise Entscheidung der KPÖ, nicht nur ihre Pforten zu öffnen, sondern auch denen, die neu in die Partei gekommen waren, eine Führungsverantwortung anzuvertrauen.
Größere linke Parteien in Europa wie La France insoumise oder Podemos haben nur Beobachterstatus. Warum gehören die noch nicht dazu?
Das hängt hauptsächlich mit den jeweiligen nationalen Wettbewerben zusammen. In Frankreich etwa gibt es zwei große linke Parteien: die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) und La France insoumise. Die gingen vor den letzten Parlamentswahlen ein Bündnis ein, das vor den Europawahlen stillgelegt wurde, sodass sie jetzt im Wettbewerb zueinander stehen. Das ergibt eine unterschiedliche Nähe zu den europäischen Linken. Wir haben aber sehr gute Kontakte zu beiden Parteien (die PCF ist ja Gründungsmitglied der Europäischen Linken) und bemühen uns darum, die Konkurrenz zwischen den beiden auf europäischer Ebene nicht wirksam werden zu lassen. Dasselbe gilt für Spanien, wo Podemos aus dem Wahlbündnis Sumar, an dem auch die Vereinigte Linke, die Mitglied der EL ist, teilnimmt, austrat. Trotzdem sind wir bemüht, intensive Kontakte mit beiden zu pflegen.
Nach 500.000 Toten und Hunderten zerstörten Städten und Dörfern ist der Zeitpunkt gekommen, in dem über einen Waffenstillstand, über einen Rückzug der russischen Truppen und die territoriale Integrität in der Ukraine verhandelt werden soll
Im Osten Europas herrscht Krieg. Wie lässt sich dieser beenden?
Offensichtlich nicht auf dem Schlachtfeld. Es muss eine politische und diplomatische Lösung gefunden werden. Historisch ist es ja so, dass alle Kriege mit einem verhandelten Frieden enden. Nach 500.000 Toten und Hunderten zerstörten Städten und Dörfern ist der Zeitpunkt gekommen, in dem über einen Waffenstillstand, über einen Rückzug der russischen Truppen und die territoriale Integrität in der Ukraine verhandelt werden soll.
Aber Russland wird kaum die eroberten Gebiete im Osten der Ukraine aufgeben. Soll Putin etwa für seine Aggressionspolitik und für seine Kriegsverbrechen gewissermaßen belohnt werden?
Es ist ja eindeutig, dass die Aggression von Russland ausging und unter dem Bruch des Völkerrechts stattfand. Auf dieser Seite liegt die Verantwortung für die vielen Opfer. Ich bin dagegen, dass die Aggression belohnt wird. Aber die Lösung für eine stabile Sicherheit der Ukraine muss politisch gefunden werden. Das geht nicht anders als über Verhandlungen.
Viele Osteuropäer befürchten gar einen Domino-Effekt.
Was ein weiteres Argument für eine politische Lösung ist. Dieses Eskalationsszenario muss unter allen Umständen verhindert werden. Das erfordert internationalen Druck auf Russland und Diplomatie. Und es erfordert, Russland und China in einen Friedensprozess miteinzubeziehen. Schließlich geht es um Frieden und Sicherheit in Europa.
In Europa wird massiv aufgerüstet. Befürchten Sie einen Backlash in alte Zeiten des Wettrüstens?
Wir sind absolut gegen diese neue Rüstungswelle. Die Aufwendungen für Rüstung bei der NATO ergeben mittlerweile das Dreifache wie das von Russland und China zusammen. Von einer Rüstungslücke kann man also nicht sprechen. Es käme jetzt darauf an, einen Prozess auszulösen, der dieses Niveau reduziert. Wir brauchen Rüstungskontrolle und eine Rückkehr zum Vertrag über die Reduzierung der atomaren Mittelstreckenraketen in Europa und zum Vertrag über die Reduzierung der konventionellen Waffen. Das geht wiederum nur über Politik und Diplomatie.
Ich halte den Druck von Norwegen, Spanien und Irland, den palästinensischen Staat anzuerkennen, für richtig. Es ist ein wichtiger Schritt.
Zum Krieg in Nahost. Was kann Europa tun, um zu helfen, den Krieg zu beenden? Mit Sanktionen gegen Israel?
Wir haben uns deutlich dafür ausgesprochen, dass Sanktionen gegen Israel verhängt werden und das EU-Israel-Assoziationsabkommen suspendiert wird, um Druck auszuüben, dass Israel einer Feuereinstellung zustimmt. Alle, mit denen ich spreche, verurteilen das Massaker der Hamas vom Oktober. Es stellt auch niemand Israels Recht auf Selbstverteidigung infrage. Aber das, was wir jetzt haben, überschreitet bei weitem dieses Recht. Es sind jetzt etwa 38.000 Todesopfer in Gaza, davon besteht der überwiegende Teil aus Zivilisten. Europa hat eine Verantwortung dafür, denn Deutschland und andere Länder haben auch nach dem Beginn des Krieges noch Waffen an Israel geliefert. Ich halte den Druck von Norwegen, Spanien und Irland, den palästinensischen Staat anzuerkennen, für richtig. Es ist ein wichtiger Schritt. Er verbessert die Voraussetzungen für Verhandlungen. Man muss allerdings dazusagen, dass die Situation am Boden sich nicht ändert. Umso wichtiger ist es, dass Europa Druck auf Israel ausübt und Sanktionen verhängt.
Auch mit dem Risiko, dass die Hamas sich dadurch bestätigt und aufgewertet fühlt?
Ich glaube, dass der erste Ansprechpartner für Gespräche die palästinensische Autonomiebehörde ist. Mit ihr muss Europa kooperieren.
Sie sprachen an anderer Stelle von einer Doppelmoral der Europäer. Können Sie das näher erläutern?
Es hat nur eine Woche gedauert, bis die ersten Sanktionen gegen die Russische Föderation verhängt wurden, als berechtigte Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine. Wir warten aber immer noch auf eine Reaktion der Europäischen Union, um das Massaker in Gaza zu beenden. Und nicht nur in Gaza, auch im Westjordanland. Die EU war auch sehr deutlich in ihrer Verurteilung der Repression Nawalnys, aber sie schweigt in Hinblick auf das Urteil des türkischen Regimes gegen den Parlamentsabgeordneten Selahattin Demirtas, den Anführer der HDP, einen Mann des Friedens (der laut Medienberichten zu 42 Jahren Gefängnis verurteilt wurde). Oder wann haben Sie das letzte Mal eine Stellungnahme der EU zur türkischen Besetzung eines Drittels von Zypern gehört, einem EU-Mitgliedstaat? Ist es nicht auch eine Doppelmoral, von einem weltweiten Kampf gegen Autokratien zu sprechen und Hunderte Millionen Euro an Autokraten in Tunesien oder Ägypten zu geben, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten? Damit untergräbt die EU ihre Glaubwürdigkeit.
* Das Interview wurde kurz vor Walter Baiers Flug nach Israel geführt, wo er sich mit der israelischen Friedensbewegung, aber auch mit der PLO traf.
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