Unternehmen und Menschenrechte / „Los Desaparecidos“: Unternehmen zwischen Verantwortung und Straflosigkeit
San Miguel Aquila am 15. Januar. Es ist zwei Jahre her, dass der Lehrer António Díaz Valencia, der die Rechte der indigenen Bevölkerung in der Gemeinde im mexikanischen Bundesstaat vertrat, und der Rechtsanwalt Ricardo Lagunes Gasca verschwunden sind.
Die beiden hatten, bevor sie entführt wurden, an einer Sitzung teilgenommen, in der es um den Betreiber der Minen Las Encinas in Aquila, das Unternehmen Ternium, ging. Der größte Stahlproduzent Lateinamerikas mit Hauptsitz in Luxemburg stand wegen des Nichteinhaltens von Vereinbarungen mit den Gemeinden der Gegend in der Kritik. Der Pick-up, mit dem António Díaz und Ricardo Lagunes unterwegs waren, wurde in Cerro de Ortega in der Gemeinde Tecomán im Bundesstaat Colima gefunden. Die Reifen waren von Schüssen durchlöchert. Bis heute ist das Schicksal der beiden Menschenrechtler nicht geklärt.
In einem anderen Fall wurde der indigene Umweltaktivist Higinio Trinidad de la Cruz vor zwei Jahren in der Grenzregion zwischen den Bundesstaaten Jalisco und Colima tot aufgefunden. Laut Generalstaatsanwaltschaft wurde seine Leiche einen Tag nachdem er vermisst gemeldet worden war, in dem Dorf Ayotitlán gefunden. Nach Aussagen von Zeugen wurde Higinio Trinidad von Mitgliedern der Organisierten Kriminalität gekidnappt. In der Region befindet sich gut die Hälfte der Eisenerzvorkommen Mexikos. Die örtliche Mine Peña Colorado gehört jeweils zur Hälfte Ternium und ArcelorMittal.
Der Rechtsanwalt Eduardo Mosqueda, der im vergangenen Jahr in Luxemburg war, sieht Parallelen zwischen den beiden Entführungsfällen. Am zweiten Jahrestag beging die Indigene Gemeinschaft von San Miguel Aquila einen Gedenktag und zog durch die Straßen der Gemeindehauptstadt. Zudem gab sie eine Erklärung ab, in der sie forderte, dass die Vermissten lebend gefunden werden. Zwar nahmen Anwohner und Freunde von António und Ricardo teil, aber bis auf einen Bruder nicht die direkten Angehörigen. Tono Diaz, der Enkel von António Díaz, sagte in einem Telefonat mit dem Tageblatt, dass er weder von den Ermittlungsbehörden noch von dem Konzert noch etwas gehört habe.
Steigende Zahl der Fälle
Der Fall Díaz/Lagunes ist nicht nur ein Beispiel für die gravierende Menschenrechtslage in Mexiko, sondern auch für die dubiosen Machenschaften der transnationalen Unternehmen in dem Land. Die Regierung täuscht Rechtsstaatlichkeit vor, obwohl Straflosigkeit vorherrscht und sie den Kampf gegen die mächtigen Kartelle verloren hat. Das Nationale Register verschwundener und vermisster Personen erfasste bis August vergangenen Jahres insgesamt 116.386 Personen. Allein im Jahr 2023 registrierte die Nationale Suchkommission mindestens 12.031 neue Fälle.
Während die Behörden weitgehend untätig bleiben, haben sich Angehörige und Freunde von Verschwundenen zusammengeschlossen, um Gerechtigkeit und ein Ende der Straflosigkeit zu fordern. Doch für ihr Engagement werden sie häufig kriminalisiert. Zudem werden sie bedroht oder gar angegriffen – nicht zuletzt mit sexualisierter Gewalt. Die Familien von Lagunes und Díaz haben mittlerweile fast alle staatlichen Institutionen durchlaufen, um die beiden Vermissten zu finden. Doch von ihnen fehlt jegliche Spur.
Gegenwärtig ist das organisierte Verbrechen weltweit mächtiger denn je, vor allem in Lateinamerika. Doch nicht nur die Kartelle haben die seit jeher von Korruption geprägte Politik im Griff. Auch multinationale Konzerne üben seit jeher ihre Macht auf die Regierungen aus. Im vergangenen Vierteljahrhundert hat der Druck ausländischer Investoren besonders auf die Staaten deutlich zugenommen. Die Zahl der Klagen wegen sogenannter Vertragsverletzungen seitens der Staaten hat sich vervielfacht. Im Jahr 1996 waren es noch sechs bekannte Fälle, 2021 schon 1.190. In dem genannten Zeitraum wurden die Staaten nach Angaben des in Amsterdam ansässigen Transnational Institute (TNI) zur Zahlung von 33,6 Milliarden US-Dollar verurteilt. Argentinien und Mexiko gehören zu den am stärksten betroffenen Ländern.
Die Konzerne machen ihre Ansprüche mit bilateralen Investitionsabkommen geltend. Sie sollen die Rechtssicherheit von Investoren schützen, enthalten jedoch eine Reihe von Standardbestimmungen, die stets zum Vorteil der transnationalen Unternehmen sind, etwa jene über die Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten (ISDS). Und sie erlauben den Unternehmen, die behaupten, der Staat habe eine Klausel eines Abkommens nicht eingehalten, vor das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten (ICSID), den Internationalen Schiedsgerichtshof der Internationalen Handelskammer oder die UN-Kommission für internationales Handelsrecht zu ziehen. Diese können den Investoren eine Entschädigung zuerkennen, etwa für entgangene Gewinne.
Konzerne klagen gegen Staaten
Eine TNI-Studie zeigt, dass es in den vergangenen 30 Jahren 327 Klagen vor allem von US-amerikanischen, kanadischen und europäischen Anlegern gegen karibische oder lateinamerikanische Staaten gab. In 62 Prozent der Fälle haben die Konzerne gewonnen. Die meisten Klagen wurden von Multis im Bergbau sowie in der Öl- und Gasförderung eingereicht. Argentinien erhielt mit 62 die meisten Klagen und verlor 87 Prozent davon. Die Gerichtsverfahren kosteten den klammen Staat mehr als neun Milliarden US-Dollar.
Die politische Macht der transnationalen Unternehmen in Lateinamerika reicht weit zurück, bis etwa in die Zeit, als Ende der 1920er Jahre der unter dem Namen United Fruit Company bekannte US-Konzern Polizei und Armee Kolumbiens einschaltete, um den Protest von 25.000 Plantagenbeschäftigten, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpften, niederzuschlagen. Ein besonders unrühmliches Kapitel war die Zeit der Militärdiktaturen in den 1970er und 1980er Jahren. Viele Konzerne, auch europäische, waren mit den Regimen eng verbandelt – und haben sprichwörtlich „ihre Leichen im Keller“, wie es ein Menschenrechtsaktivist und Freund des Autors einmal ausdrückte.
Ein Beispiel unter mehreren anderen war Daimler-Benz. So hat etwa die deutsche Journalistin Gaby Weber das Schicksal der während der argentinischen Diktatur (1976-1983) verschleppten Betriebsräte von Mercedes-Benz untersucht. In ihrem Buch „Die Verschwundenen von Mercedes Benz“ beschreibt sie, wie sie herausfand, dass 1977 linke Gewerkschafter des Mercedes-Werks in González-Catán bei Buenos Aires „verschwanden“. Sie wurden entführt, gefoltert und ermordet – nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gab es 30.000 „Desaparecidos“ während der argentinischen Militärdiktatur.
Sie wurden von den Schergen des Regimes meistens nachts, aber auch am hellichten Tag abgeholt, in Folterzentren gebracht, misshandelt und ermordet. Ihre Leichen wurden irgendwo verscharrt oder aus Flugzeugen über dem Meer abgeworfen. Nach dem Ende der Diktatur gab es einen Gerichtsprozess gegen die Militärjunta. Die Generäle Jorge Videla und Emilio Massera wurden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Der damalige Staatsanwalt Julio Strassera sprach 1985 zwei Worte aus, die um die Welt gingen: „Nunca más“ – „nie wieder“ sollten auf argentinischem Boden Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet werden.
„Negationismus“ gewinnt an Boden
Doch die damalige Regierung unter Raúl Alfonsin sah sich gezwungen, Zugeständnisse an die Militärs zu machen: Mit dem „Schlussstrichgesetz“ und dem „Gesetz über die Gehorsamspflicht“ entgingen viele Täter einer Anklage. Alfonsins Nachfolger Carlos Menem begnadigte die verurteilten Diktatoren und einige verurteilte Militärangehörige. Erst unter der Regierung des Linksperonisten Néstor Kirchner ab 2003 wurden die Amnestien und die genannten Gesetze aufgehoben. Viele Verfahren wurden wieder aufgenommen. Zwischen 1985 und 2022 wurden 1.124 Militärangehörige wegen der Verbrechen während der Diktatur verurteilt.
Späte Hoffnung auf Sühne gab es auch im Fall Mercedes: Nachdem gut 20 Jahre zuvor ein Verfahren in Nürnberg gegen Juan Tasselkraut eingestellt worden war, entschied ein Gericht in Buenos Aires, dass ein solches gegen den früheren Produktionsleiter eröffnet werden konnte. Allerdings markiert die Politik des aktuellen Präsidenten Javier Milei und seiner Stellvertreterin Victoria Villaruel, einer Bewunderin der Diktatur, eine Abkehr von dem Leitmotiv „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ bei der Vergangenheitsbewältigung. In vielen Ländern Lateinamerikas, ob in Argentinien, Brasilien oder Chile, haben in den letzten Jahren die Verharmloser der Diktatur und Verfechter des „Negationismus“ an Boden gewonnen und ihre Zahl zugenommen.
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