Reckingen / Luxemburg: Eine neue Zukunft mit Kunst
Zwischen Corona und einem Weihnachten, was anders werden wird als alle Weihnachten vorher, gehen sie oft unter. Es sind die Menschen, die nicht das Glück hatten, in einem sicheren Land geboren worden zu sein. Jwan Atto ist so einer. Der Kurde aus Syrien hat in Reckingen/Mess eine neue Heimat gefunden und will sich als Künstler etablieren.
Jwan Atto (29) und seine Frau Fardous Sadeq (29) haben sich mit bescheidenen Mitteln eingerichtet. Die Dachgeschosswohnung im ehemaligen Pfarrhaus in Reckingen strahlt Gemütlichkeit aus. Umso ungewöhnlicher mutet die Sammlung im Bücherregal neben der Couch an. Pablo Picasso teilt sich mit Paul Klee, der 6. Ausgabe des „Salon d’art contemporain Esch-sur-Alzette“ und dem Katalog des luxemburgischen Künstlers Robert Brandy ein Regal. Im Fach darunter steht das „Oxford Wordpower“, ein dickes Wörterbuch.
Das Paar stammt aus dem kurdischen Teil des Landes, nahe der Grenze zur Türkei. Sie sind als Flüchtlinge nach Luxemburg gekommen, haben beide Asylstatus. Jwan und seine Frau sprechen neben ihrer Muttersprache Kurdisch hauptsächlich Englisch. Er lernt Französisch und verabschiedet sich mit „Äddi“. Noch fehlt vieles, aber sie wollen ankommen in Reckingen, dem Dorf im Speckgürtel der Hauptstadt.
Flucht, Hilfe und Rückkehr
Bis dorthin war es eine lange beschwerliche Reise. Luxemburg stand zunächst nicht auf der Karte der Wunschziele von Jwan. Dass er trotzdem hier landet, ist einem Irrtum zu verdanken. Er studiert Biologie, als der Krieg ausbricht. Die Universität in Deir ez-Zor, nahe der irakischen Grenze, ist nicht mehr sicher. Er flieht mit seinem Vater, einem Arzt für Allgemeinmedizin, in den Irak und hilft, Verwundete zu versorgen. Daneben arbeitet er dank seiner Sprachkenntnisse in einer Firma für medizinische Geräte. Er spricht neben Kurdisch Arabisch und Englisch. Da ist er 21 Jahre alt.
2013 kehrt er zur Hochzeit mit Fardous nach Syrien zurück. Sie studiert Physik, er schlägt sich mit Jobs durch. Als die Situation immer unübersichtlicher wird, nimmt er seine Ersparnisse und macht sich auf nach Europa. Die Niederlande sind sein Ziel. Er weiß, dass dort die meisten Menschen Englisch sprechen, es ist sicher dort. „Wir hatten schon alles verloren, waren bei null“, sagt er. „Unser Neuanfang irgendwo anders sollte gute Bedingungen haben.“ Die Konsequenz, sich von da an als Illegaler bewegen zu müssen, nimmt er in Kauf.
Zweite Flucht und Ankunft in Luxemburg
Es sind die bekannten Flüchtlingsrouten aus Syrien, die er nimmt. Die Türkei ist für ihn ein leicht zu erreichendes Ziel. Dort leben viele Kurden. In Griechenland findet er Schlepper, die ihn hinter Frachtgütern versteckt per Lkw weiter nach Europa bringen. Er lässt sich darauf ein. Tagelang ist er versteckt im Dunkeln auf einer Ladefläche unterwegs. Eine Uhr hat er nicht.
Mit dem Fahrer verständigt er sich mit Händen und Füßen. Eine gemeinsame Sprache haben sie nicht. Irgendwann hält der Lkw, der Fahrer bedeutet Jwan, auszusteigen. Es ist ein Rastplatz und ein früher Morgen im Jahr 2014. Ein Handy hat er nicht und keine Ahnung, wo er sich befindet, als der Lkw einfach weiterfährt. Das Einzige, was bleibt, ist Warten, dass er zurückkommt und es weitergehen kann.
Mehrere Stunden vergehen, nichts passiert. Jwan nimmt einen Bus, von denen er zwischenzeitlich mehrere vorbeifahren sieht. „Der Fahrer sprach Englisch und ich konnte in Euro bezahlen, also musste ich irgendwo in Europa sein“, sagt er rückblickend. Die Fahrt endet in der Hauptstadt und mit der Bekanntschaft zu einem anderen Flüchtling, der ihm weiterhilft.
Irrtum als Schicksal und Philosophie
So wie das Rote Kreuz, das ihm Essen, Kleidung und ein Bett besorgt. Oder das „Lëtzebuerger Integratiouns- a Sozialkohäsiounszenter“ (Lisko), das ihm später die Wohnung in Reckingen vermittelt. Er registriert sich in Luxemburg und entscheidet, zu bleiben. Niederlande hin oder her, er will sein Leben neu in die Hand nehmen. Der Irrtum des Fahrers ist sein Schicksal, die Irrtümer des Lebens werden zu seinem Thema.
„Man kann nur Neues im Leben entdecken, wenn man sich irrt“, ist einer der Sätze, die ihm über die Lippen kommen, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. In einer Leistungsgesellschaft, die Fehler kaum verzeiht, hören sie sich für einen 29-Jährigen ungewöhnlich weise an.
Jwan hat daraus eine Philosophie entwickelt, die er „Errorism“ nennt. Das Neue in seinem Leben ist Luxemburg, er entdeckt das Land und folgt der künstlerischen Ader in ihm. Mittlerweile absolviert er eine Ausbildung an der „Ecole d’art contemporain“ in Hollerich und will in der Kunstszene Fuß fassen. Er ist im letzten Jahr der vierjährigen Ausbildung.
Der „Errorism“ ist auch Teil seiner Kunst. Seine Gemälde sind abstrakt. Die kleinen Irrtümer, die er absichtlich einbaut, sieht nur er. Seine Frau, Fardous, ist zwischenzeitlich nachgekommen und studiert „Applied information technology“ an der Universität Luxemburg. Sie wird anschließend schnell einen Job finden, für Jwan ist es schwierig. „Ich suche eine simple Arbeit“, sagt er und meint damit ungelernte Tätigkeiten.
„Mehr Frieden“
Zwischen den Zeilen ist zu erahnen, dass er sich das einfacher vorgestellt hat. Ohne einen Abschluss und mit derzeit noch geringen Sprachkenntnissen in den Landessprachen ist es mühselig. Von der Idee, mit seiner Kunst die Welt ein bisschen besser zu machen, vielleicht sogar zu verändern, lässt er sich aber nicht abbringen.
Wenn er sich etwas wünscht und wenn er etwas bei den Betrachtern seiner Werke auslösen will, dann „mehr Frieden“, wie er sagt. Bei ihm ist es ein Gesamtpaket. Er meint den inneren bei jedem Einzelnen und den in der Welt. „Dieses Jahr ist mir Corona dazwischengekommen“, sagt er. „Aber nächstes Jahr werde ich in Luxemburg eine Ausstellung machen.“ Ein erstes Angebot hat er schon. Das „Centre culturel Pëtzenhaus“ in Reckingen ist offen für eine Schau seiner Kunstwerke.
Weitere Infos: jwanatto.com
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