Nachruf / Luxemburg ist ärmer geworden: Joseph Kinsch ist gestorben
Joseph Kinsch ist tot. Luxemburg hat einen Menschen verloren, der nach Emile Mayrisch der entscheidende Stahlmanager und Stahl-Stratege im Großherzogtum war. Joseph Kinsch war Krisenmanager und Gestalter. Ohne ihn gäbe es in Luxemburg wohl keine Stahlindustrie mehr. Kinsch hat Wirtschaftsgeschichte in Luxemburg gestaltet.
Joseph Kinsch war kein Mensch, der Aufhebens um sich machte. „Manager müssen Situationen erkennen und die Weichenstellungen für die Zukunft vornehmen“, sagte er in unserem letzten Gespräch, als er seine Arbeit beschrieb. Er habe einfach seine Arbeit getan, meinte er. Aber was für eine Arbeit …
Joseph Kinsch ist 28 Jahre alt, als er 1961 in die Burbacher Hütte eintritt. Er hat Wirtschaftswissenschaften studiert. Dass er mit seinem Studium in ein Stahlwerk eintreten würde, daran hatte niemand in der Familie gezweifelt. Sein Vater hatte „im Stahl“ gearbeitet, wie auch seine beiden Großväter. Kinsch macht hier seine Lehrzeit in Sachen Stahl. Burbach ist ein integriertes Stahlwerk mit Hochöfen, Stahlwerk, Kokerei und Walzwerk. Er selbst sagte, dass er in Burbach alles über Stahl gelernt habe, was man wissen müsse.
Diese „ruhige Zeit“ findet ihr Ende 1973 mit der ersten Ölkrise. Der Ölpreis steigt von 3,60 Dollar pro Fass auf 12,60 US-Dollar. Als der Schah von Persien gestürzt wird, klettert er auf 35 Dollar. Die Folge: Die Weltwirtschaft bricht zusammen, es gibt eine Rezession, die Inflationsrate steigt auf über 12 Prozent. Kinsch erzählte: „Wir hatten das nicht genau einschätzen können. War das nur eine Delle, oder war das eine ernsthafte Konjunkturkrise?“ Joseph Kinsch war zu der Zeit bereits von Burbach in die Zentrale der Arbed in das Finanzressort gewechselt. Die Antworten, die auf die Fragen zu geben waren, waren lebenswichtig für das Unternehmen wie auch für das Land. Für die Arbed arbeiteten 25.000 Menschen. Der Anteil an der Wirtschaftsleistung Luxemburgs lag bei 25 Prozent. „Wir konnten damals nicht wissen“, erinnerte sich Joseph Kinsch, „dass wir am Beginn einer 20 Jahre dauernden Krise standen.“
Beginn einer Krise
Was war die Arbed für ein Unternehmen, in dem Joseph Kinsch dabei war, Karriere zu machen? Mit Ausnahme des Engagements in Brasilien hatte die Arbed sich nie um Erweiterung gekümmert. In den 60er-Jahren beginnt die Erweiterung. 1962 wird Sidmar in Belgien gegründet, 1964 wird Hadir von Pont-à-Mousson gekauft, unter Arbed-Regie die Drahtwerke vereinigt. Arbed verkauft das Kölner Unternehmen Felten & Guillaume und holt sich mit dem Geld die restlichen Sidmar-Anteile von Cockerill. Kinsch arbeitet da längst in der Finanzdirektion der Arbed und ist an den Finanzierungen beteiligt. 1972 gibt es beträchtliche Lohnerhöhungen, 1974 erfolgt die gesetzliche Beteiligung der Gewerkschaften an der Unternehmensführung. Es ist die Zeit des Optimismus, wo alles möglich scheint.
Und dann kommt die Ölkrise, kommt der Absturz in der Nachfrage nach Stahl; kommt der Beginn einer Krise, die sich bis heute zu Wellen mit Auf und Ab fortsetzt. In dieser ersten Krisenwelle wird Joseph Kinsch Generaldirektor für Finanzen. Der Herr über die Kasse muss bei einem dramatischen Einbruch der Stahlnachfrage und der Preise, bei gleichzeitiger Erhöhung der Inflationsrate und der Zinsen, das Geld finden, um die Maßnahmen zu finanzieren, mit denen Arbed überleben sollte. Eine Runde der nationalen Einheit wird ins Leben gerufen: die „Tripartite“. Sie tagt 1977 zum ersten Mal und muss im Jahr darauf gleich die zweite Ölkrise verkraften.
Ein starker Mann, der sich zurückzunehmen weiß, braucht im Sozialdialog immer auch einen starken Mann, der Arbeitnehmer-Interessen vertritt. Kinsch findet ihn in John Castegnaro: Zwei Alphatiere, die sich gegenseitig respektierten, denen es nicht auf Machtproben ankommt, sondern auf die Problemlösung. Kinsch hat immer in respektvollen Tönen von seinem Gegenüber geredet, wie auch Castegnaro Kinsch immer persönlichen Respekt zollte.
Die Ära Kinsch
Die luxemburgische Lösung, niemanden zu entlassen, sondern ihn in Übergangslösungen unterzubringen, bringt die Arbed an den Rand des Konkurses. Diese Lösung leert die Kassen, die durch die Krise nicht mehr in nötigem Umfang gefüllt sind. Der Staat greift ein, wird zu 42,9 Prozent Anteilseigner der Arbed. Kinsch hält die Arbed finanziell bei jährlich sinkender Produktion auf Kurs und stabilisiert den Schuldenberg. 1980, als er Finanzchef der Gruppe wird, erwirtschaftet Arbed erstmals wieder Gewinn.
Die wirkliche Ära Kinsch aber beginnt ab 1992. Joseph Kinsch wird Vorsitzender des Vorstands. Im Jahr darauf zieht er die erste Konsequenz aus der Krise. Die Hochöfen in Esch-Belval werden ausgeblasen. In Schifflingen, in Differdingen, in Belval werden Elektro-Öfen gebaut. Statt Eisenerz einzuschmelzen, wird Schrott eingeschmolzen. Luxemburg hat keinen Hafen, um das nötige Eisenerz in den Süden des Landes zu bringen. Die wesentliche Folge: Luxemburg konzentriert sich voll auf den Langstahlbereich. Es ist diese Entscheidung, die den Stahlstandort Luxemburg heutzutage noch sichert. Im Gespräch stellte Kinsch, der Teamplayer, auch hier sein Licht unter den Scheffel: „Es war eine gemeinschaftliche Entscheidung“, sagte er. Dabei unterschlug er jedoch, dass diese Entscheidung viel Überzeugungskraft kostete.
Die Arbed hat im Prinzip immer noch leere Kassen. Die Schulden drücken. Aber die 90er-Jahre werden noch einmal goldene Jahre. Kinsch kauft ein: die Stahlwerke Unterwellenborn aus dem Korb der deutschen Wiedervereinigung, das Stahlwerk Bremen aus dem Klöckner-Konzern. Als Spanien seine Stahlindustrie privatisiert, findet der Finanzfachmann die Lösung. Frankreich legt Geld auf den Tisch. Arbed hat kein Geld und bietet einen Aktientausch. Kinsch macht das Geschäft. Überleben kann das Unternehmen so dennoch nicht. Die Franzosen werden hinzugeholt. Von der Arbed bleiben in dem neuen Unternehmen Arcelor noch die beiden ersten Buchstaben. Aber: Joseph Kinsch hat aus dem luxemburgischen Stahlunternehmen Arbed den wichtigsten europäischen Konzern gemacht, mit einer Ausstrahlung nach Brasilien, wo Belgo Mineira die Nummer zwei ist.
Dann kommt Lakshmi Mittal
In einem Manager-Leben kann nicht immer alles gelingen. Joseph Kinsch muss erleben, dass in Brasilien die Fusion zwischen Belgo Mineira und CSN nicht gelingt. Und dann kommt Lakshmi Mittal. Eigentlich ist Joseph Kinsch schon im Ruhestand. Das Tagesgeschäft wird von Guy Dollé und Michel Wurth bestritten. Beide entschulden das Unternehmen, machen aus der Arbed, Aceralia und Usinor durch eine Reihe von Struktur-Reformen den Konzern Arcelor.
Sprach man ihn auf das Thema an, reagierte er kurz und knapp. „Arcelor war ein Juwel, aber wir hatten keinen Referenzaktionär, niemanden, der eine Sperrminorität hatte.“ Das klingt resignierend. Aber: Kinsch lässt Mittal gewähren, der sich an Guy Dollé beinahe die Zähne ausbeißt. Bis eines Tages bei Joseph Kinsch das Telefon läutet. Das Gespräch soll legendär gewesen sein. Mittal erklärt sein Anliegen, Kinschs kurz und knappe Antwort: „Schick deinen Industrieplan rüber.“ Kinsch macht Mittal das Leben nicht leicht, versucht alle Finten, die zur Verfügung stehen, treibt den Preis hoch, paktiert mit den Russen. Am Ende ist die Übernahme nicht zu vermeiden. Kinsch prägt 2006 mit ArcelorMittal zum letzte Mal ein Unternehmen, übernimmt noch für zwei Jahre den Vorsitz im Aufsichtsrat.
Was war das für ein Leben? Was hat dieser Mann getan? Er hat in aller Einfachheit Luxemburg und seinen wichtigsten Industriezweig geprägt, Krisen überwunden, in die Moderne geführt und überleben lassen. Mit dem Leben von Joseph Kinsch verbindet sich die Geschichte des Industriezweiges Stahl in Luxemburg. Wenn heutzutage in Belval und in Differdingen noch Schrott gekocht und Stahl gemacht wird, wenn Rodange noch existiert und in Düdelingen Stahl verarbeitet wird, dann ist das das Verdienst von Joseph Kinsch. Luxemburg hat einen großen Mann verloren.
Facetten eines Lebens
Joseph Kinsch war nicht nur ein Mann des Stahls. Die Tradition in jenen Jahren wollte es, dass der Chef der Arbed auch Präsident der Handelskammer war. Kinsch füllte dieses Amt von 1993 bis 2004 aus. Von 2000 bis 2004 war er ebenfalls der Gründungspräsident des luxemburgischen Arbeitgeberverbandes UEL.
Sein Wirken im Verborgenen und sein Engagement für die Gesellschaft zeigen sich aber besonders in seinem Einsatz für die Wochenzeitung D’Lëtzebuerger Land. Als sein Bruder, der Journalist Léon Kinsch, im Jahre 1983 stirbt, übernimmt er den Vorsitz im Verwaltungsrat der Wochenzeitung. Kinsch überzeugt die Aktionäre mit der Zeit davon, alle Anteile der Herausgebergesellschaft auf eine Stiftung zu übertragen. Er stellt die Zeitung auf finanziell gesunde Füße, wehrt alle Versuche der Einflussnahme ab und sichert die Unabhängigkeit der Redaktion, auch wenn ihm nicht immer gefällt, was er dort liest. Im Lëtzebuerger Land spricht man heute von einer „ethischen Erbschaft“, die es zu bewahren gilt. Joseph Kinsch zeigte in der Behandlung des Erbes seines Bruders den Respekt vor Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Eine Tugend, die er als Arbed-Chef auch zum Tragen brachte. Joseph Kinsch war bis zuletzt Vorsitzender der Stiftung, die die Zeitung trägt.
Der Wirtschaftshistoriker
Wollte man sich mit Joseph Kinsch unterhalten, musste man gut vorbereitet sein. Kinsch hatte sich zu einem Wirtschaftshistoriker entwickelt, der nicht nur die Luxemburger Wirtschaftsgeschichte beherrschte. Kinsch kannte das Saarland, hatte die wesentlichen Biografien saarländischer Politiker und saarländischer Industrieller und Industriellenfamilien gelesen. Er war ein durch und durch gebildeter Mann.
Die Verbindung mit dem Saarland kam nicht von ungefähr. Und auch der berufliche Eintritt in das Burbacher Stahlwerk hatte durchaus luxemburgische Beziehungen. Burbach gehörte der Arbed. Mehr noch: Burbach war die Wiege der modernen luxemburgischen Stahlindustrie. In Burbach trafen sich erstmals die Familien Tesch und Metz.
Victor Tesch und Norbert Metz hatten den Grundstein für die Luxemburger Stahlindustrie gelegt mit Gründungen von Werken in Berburg, Eich und Burbach. Burbach war aus der Überlegung heraus gegründet worden, dass man auf der saarländischen Kohle zur Verhüttung des Eisens bauen müsse. Im Jahre 1870 war die Überlegung gegenteilig. Man baute das Stahlwerk Esch-Schifflingen auf der Minette. Bis dahin hatte es zwischen Tesch und Metz immer nur Beteiligungen gegeben. Esch-Schifflingen bauten die beiden gemeinsam. Die Familien waren sich zwischenzeitlich auch durch Heiraten näher gekommen. „Das Kapital blieb so in der Familie“, analysierte Kinsch in einem früheren Tageblatt-Gespräch. Auch Düdelingen bauten beide Familien gemeinsam. Aus beiden Familien kamen zwei wesentliche Persönlichkeiten. Emile Mayrisch als Enkel von Adolphe Metz, Gaston Barbanson als Enkel von Victor Tesch. Beide entwickelten die luxemburgisch-saarländische Stahlindustrie mit Arbed, Burbach und Belgo Mineira zu dem Konglomerat, dessen Finanzchef und später Vorsitzender der Generaldirektion Joseph Kinsch werden sollte. Kinsch hat diese Historie sichtlich als Aufgabe verstanden, das industrielle Erbe des Landes weiterzuentwickeln.
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„Wenn heutzutage in Belval und in Differdingen noch Schrott gekocht und Stahl gemacht wird, wenn Rodange noch existiert und in Düdelingen Stahl verarbeitet wird,“
Wie lange noch?
Und dann kommt wieder der Schrotthändler!