/ Luxemburgensia: Stummes Pferdeflüstern kommt nicht ganz an
Mit „Lautlos“ veröffentlichen die Éditions Guy Binsfeld einen Young-Adult-Roman über eine stumme Einzelgängerin, die in einem langsamen Heilprozess die Freundschaft und die Liebe entdeckt – und dabei auch noch ein Familiengeheimnis lüftet. Ein sehr vorhersehbarer Plot und eine klischeelastige Sprache stehen der an sich interessanten Figurengestaltung im Weg.
Lucinda ist stumm. Die verzweifelten Eltern und Therapeuten wissen keinen Ausweg. Dabei konnte die 16-Jährige im Kindesalter sprechen. Wieso sie es verlernt hat, weiß sie selbst nicht. Es gibt da schon ein paar Indizien – eine geheimnisvolle Dose, die Fotos von einem unbekannten Paar beinhaltet, ein paar wiederkehrende Träume und Erinnerungen. Lucinda unterdrückt letztere aber meist bewusst. Und die Fotos scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben.
Zu Beginn der Erzählung zieht Lucinda mit seinen Eltern in eine deutsche Kleinstadt um – die traumatisierte Jugendliche soll zum ersten Mal eine ganz normale Schule besuchen. Nachdem ihre Klasse sie am ersten Tag freundlich empfangen hat, zerbröselt das Bild eines perfekten Mikrokosmos relativ schnell und die Klassenrivalitäten zwischen den Mitschülern kommen nach und nach zum Vorschein – insbesondere die britische, mit dem Spitznamen „Freezer“ gebrandmarkte Olesya sorgt für Ärger.
Als Lucinda einen Tag auf dem benachbarten Gnadenhof den erblindeten Hengst Miracle kennenlernt und dem Vorschlag des Hofbesitzers Peter, ihm bei der täglichen Arbeit auszuhelfen, nachkommen möchte, scheint sie den langsamen Weg der Genesung einzuschlagen. Der Weg dahin ist allerdings steinig – und führt über eine langsame Sozialisierung, eine erste Liebe und eine empathische Annäherung zum Klassen-Bully.
Die Handlung des Buches ist leider äußerst voraussehbar – der erfahrene Leser, an den sich dieses Buch eben nicht wirklich richtet, wird die meisten Wendungen mindestens 200 Seiten vor der eigentlichen Auflösung erraten haben, das Ende ist bis zum exakten ersten Wortlaut von Lucinda so sehr in die Erzählstruktur hineingeschrieben, dass man sich fragt, wieso nicht minimal mit den gängigen Erwartungshaltungen gespielt wird – auch junge Leser haben ein Recht auf Erzählstrukturen abseits der eingetretenen
(Reit-)Pfade.
Dies ist umso bedauerlicher, weil die Erzählung aufgrund einer relativ gelungenen Figurenzeichnung nach einem etwas in die Länge gezogenen Anfang einen dann doch etwas fesselt und Spuren einer Überlegung über die gesellschaftliche Funktion der Sprache in die Erzählung eingewoben werden.
Y en a marre
Die Hauptschwächen von „Lautlos“ führen leider auf die Arbeit des Verlegers zurück. Viele weibliche Autoren gibt es bei den Éditions Guy Binsfeld nicht. Auf der Internetseite dann wohlwollend zu vermerken, „alle Fakten über Pferde und Mutismus ha[be] Anouk Mahr gründlich in Fachbüchern recherchiert“, wirkt zu sehr wie ein paternalistisches Schulterklopfen – dass eine Schriftstellerin die Themen, über die sie schreibt, recherchiert, gehört nämlich zu ihren beruflichen Tätigkeiten.
Dies ist leider nicht die einzige verlegertechnische Unzulänglichkeit. Wie wichtig bei Literatur der Paratext ist, zeigt alleine die Gegebenheit, dass das Wörtchen „Roman“ auf dem Buchdeckel die Haltung und Beurteilung des Lesers weitestgehend beeinflusst: Dem Rezipienten wird so mitgeteilt, dass die im Buch erzählte Geschichte (zumindest teilweise) erfunden ist.
Genau so wäre es für die Leserschaft und die Kritiker von Belang gewesen, das Buch der 19-jährigen Autorin deutlich als „Young-Adult-Roman“ hervorzuheben, damit nicht nur die angepeilte Leserschaft gefunden, sondern auch der Rahmen für die kritisch-ästhetische Rezeption festgelegt wird.
Aufgrund seiner grafischen Gestaltung/Aufmachung steht Mahrs Buch in der gleichen Sammlung wie das fast zeitgleich erschienene „Die Tanzenden“ von Tomas Bjørnstad oder Nico Helmingers „Menn Malkowitsch“ – folglich müsste „Lautlos“ es, rein von der paratextuellen Aufmachung, mit solchen Werken aufnehmen können – ein Vergleich, der natürlich hinkt.
Wertet man Mahrs Stil nämlich nach gängigen literarisch-ästhetischen Kriterien, kann man die Sprache nur als unbeholfen und klischeehaft beurteilen – die formale Mimesis einer Tagebuch-Erzählung geht nämlich mit vielen der einhergehenden melodramatischen Klischees einher.
Peters Sohn Kairo wird so als „mein Retter in der goldenen Rüstung“ bezeichnet, ein „selbst gedichtetes Lied vom Schmetterling“ in englischer Sprache ist genauso übel, wie die Umschreibung es verspricht, manchmal erinnert der Erzählton zu sehr an Ratgeberliteratur („ohne Veränderung keine Therapie“), ohne dass demgegenüber eine ironische Distanz angenommen würde, und Analysen darüber, wie schlecht der Zustand der Welt doch ist, wirken zu sehr, als wolle die Autorin neben der sehr selbstbezogenen Erzählung auch noch das Weltgeschehen kommentieren.
Irgendwann gehen die sprachlichen Redundanzen („in der Falle“, „nein nein nein nein, nein“) und die bemühten Metaphern („im Meer meiner Augen herrscht Flut“) dem Leser dann doch auf die Nerven – vielleicht sieht die jugendliche Leserschaft dies jedoch anders.
DAS BUCH
„Lautlos“ von Anouk Mahr, Éditions Guy Binsfeld 2019, 360 Seiten
In seiner Luxemburgensia-Reihe bespricht das Tageblatt neue Werke der luxemburgischen Autoren Tomas Bjørnstad, Anouk Mahr, Anja Di Bartolomeo, Claudine Muno, Jean-Marc Lantz und Jean Portante.
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Stummes Flüstern nennt man ‚Denken‘.