Afghanistan / Luxemburger Pilot Daniel Olsem: So lief die Evakuierungsoperation 2021 in Kabul ab
Anderthalb Jahre ist es nun her, dass die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen haben. Die Tage danach verliefen chaotisch: Der Flughafen musste erst für die Evakuierung geräumt werden, damit anschließend Flugzeuge aus der ganzen Welt im Dauerbetrieb dort landen konnten. Der Luxemburger Militärpilot Daniel Olsem war vor Ort und hat dem Tageblatt erzählt, wie er diese Mission erlebt hat.
Die Rettung schutzbedürftiger Menschen aus Afghanistan war im August 2021 ein Rennen gegen die Zeit: Niemand hatte laut Verteidigungsminister François Bausch erwartet, dass Kabul so schnell an die Taliban geht – oder dass tausende Menschen zum Flughafen laufen würden. Angesichts des vollständigen US-Truppenabzugs am 31. August blieben nur wenige Tage für die Evakuation, die mit Zustimmung der Taliban ablief. „Aber ob dann auch wirklich jeder Soldat der Taliban, der 20 Jahre lang gegen uns gekämpft hat, ihnen gehorcht, das ist eine andere Sache“, sagt Daniel Olsem gegenüber dem Tageblatt.
Der Luxemburger arbeitet als Pilot für die Luxemburger Armee – und war Teil einer Flugcrew, die die Flüchtenden gerettet hat. Die belgisch-luxemburgische Einheit flog während fünf Tagen mit drei C130-Flugzeugen und konnte so etwa 1.400 Menschen evakuieren. „Da kann man niemandem vorwerfen, dass nicht genug gemacht wurde“, meint Olsem. Flugzeuge aus aller Welt seien ohne Unterbrechung Tag und Nacht geflogen. Beim Anflug auf den Kabuler Flughafen habe man schon von weitem mehrere Flugzeuge erkannt, die auf eine Landung warteten.
„Kabul war gefährlich, weil das Risiko bestand, mit anderen Flugzeugen zusammenzuprallen“, berichtet der Pilot. Zum Teil habe es keine Luftverkehrskontrolle gegeben. Die Engländer und Amerikaner hätten zwar einen Kontrollturm eingerichtet, aber dort habe es keine Radarüberwachung gegeben. „Wir haben ein System im Flugzeug, mit dem vermieden wird, dass du mit einem anderen Flieger kollidierst. Wenn jeder dieses System aktiviert hat, dann siehst du die anderen – aber es ist nicht als Radar gedacht, um dir zu sagen, wo sie genau sind“, erklärt Olsem.
Die Piloten mussten dieses System trotzdem teilweise benutzen, um sicherzugehen, dass die Landepiste leer ist. „Wenn du das nicht weißt, musst du in letzter Minute durchstarten und hängst unnötig lange über der Stadt, was extrem gefährlich ist“, sagt der Luxemburger. In der Stadt hätten die Taliban extrem viel in die Luft geschossen, um die Menschen wegzujagen. „Die ballern also herum und wenn du gerade drüberfliegst, dann läufst du Gefahr, auch etwas davon abzubekommen“, sagt Olsem.
„Lange Tage, kurze Nächte“
Drei C130 der belgischen Flotte flogen zwischen Kabul und dem pakistanischen Islamabad in einer Rotation hin und her. Die A400M-Flugzeuge haben hingegen die Rotation Melsbroek bis Islamabad gemacht. „Ich war an Bord eines C130 – anfänglich war meine Mission, Ersatzstücke für den C130 runterzufliegen, weil die Flugzeuge permanent in der Luft waren“, sagt Olsem. Schlussendlich wurde kurzfristig entschieden, dass sein Flugzeug mit Crew die zwei anderen bei den Flügen nach Kabul unterstützen sollte.
Es sei eine anstrengende Mission gewesen, mit langen Tagen und kurzen Nächten. Trotzdem sei er mit seiner Leistung sehr zufrieden gewesen. „Dort hat man wirklich sofort gesehen, warum man das macht“, sagt der Pilot. Die allermeisten der evakuierten Menschen seien Frauen und Kinder gewesen. Doch um so viele Flüchtende wie möglich ins Flugzeug zu bekommen, mussten die Sitze alle entfernt werden. Diese Methode heiße „Tactical Carriage of Troops“. Die Passagiere werden ohne Sitze in Reihen hintereinander in das Flugzeug gesetzt. Um ihnen etwas Halt zu geben, werden Spanngurte über die Knie gespannt.
„Weil das schon sehr lange nicht mehr gemacht wurde, stellte sich die Frage, wie viele Menschen wir überhaupt ins Flugzeug bekommen“, erklärt Olsem. „Wir haben mit 90 Menschen angefangen und dann haben wir gemerkt, dass wir noch Platz hatten.“ Mit jeder Rotation hätte die Crew mehr Menschen in das Flugzeug transportiert. In der Militärflugfahrt gebe es eigentlich strenge Regeln, aber wenn die Situation extremer wird, werden auch die Regeln lockerer. „Einmal hatten wir nur noch im Cockpit Platz, da hatte ich eine Frau mit drei Kindern dort sitzen“, berichtet der Pilot.
Die Planung musste genau stimmen
Der Einsatz musste trotz Improvisationen vor Ort genau geplant werden. Zwischen Islamabad und Kabul sind die Hindukusch-Berge, die höher sind als die Alpen. Diese mussten also auch überwunden werden. „Wir mussten den Einsatz so planen, dass wir im Notfall mit drei von vier Motoren fliegen konnten, falls einer ausfällt – du bist dann also im Gewicht, das du mitnehmen kannst, begrenzt“, erklärt Olsem. Die Flugcrew hat dementsprechend so wenig Benzin und Ausstattung mitgenommen wie möglich, um eine höhere Nutzlast zu haben.
Tageblatt: Wie ist es dazu gekommen, dass Kabul nicht mit dem Luxemburger A400M angeflogen wurde?
Daniel Olsem: Verschiedene Systeme waren noch nicht einsatzbereit und der allergrößte Teil der Flugcrew, die zum A400M umgeschult wurden, war für diese Art von taktischer Missionen einfach noch nicht ausgebildet. Das war genau in der Transitionsphase vom C130 zum A400M. Der C130 hatte auch Täuschkörper an Bord, und der A400M eben noch nicht. Andere Länder wie Frankreich waren zwar mit dem Modell dort, aber ihnen wurde das Flugzeug viel früher geliefert.
An Bord der Maschine befanden sich außerdem Soldaten, die die Flüchtenden überwachten. Es habe immerhin die Gefahr bestanden, dass ein Selbstmordattentäter sich als Flüchtender ausgibt. „Die Passagiere wurden zwar alle gefilzt, aber in dieser chaotischen Situation kannst du nicht jede Person zu hundert Prozent untersuchen“, sagt der Luxemburger. 99,9 Prozent der Menschen seien natürlich ehrlich, aber es reiche, dass ein fauler Apfel dabei sei. Dabei waren nicht nur die Taliban gefährlich. Auch ISIS-K, eine Splitterorganisation des IS, war dort und bekämpfte die Taliban. „Die versuchen alles Mögliche, um die Operation lahmzulegen und Menschen umzubringen“, sagt der Pilot. Und tatsächlich, einen Tag nach dem letzten Flug von Daniel Olsem verübte ISIS-K einen tödlichen Bombenanschlag vor dem Flughafen von Kabul, bei dem 13 US-Soldaten und mehr als 90 Afghanen getötet wurden.
Eine außergewöhnliche Mission
Als Pilot hat man normalerweise weniger Kontakt mit den Menschen. Diese Mission war jedoch alles andere als normal. Im Plan der Amerikaner war vorgesehen, dass alle Flugzeuge maximal 30 Minuten auf dem Landeplatz blieben. „Für die Piloten ist das lange, ich bin dann auch aus dem Sitz raus, um zu schauen, wie die Situation ist“, erklärt der Luxemburger. Die Motoren dürfe man nicht ausmachen. Zum einen, um Zeit zu gewinnen und zum anderen, weil man dann nie sicher sei, ob sie auch wieder angehen.
Der direkte Kontakt mit den Flüchtenden hat Olsem jedenfalls berührt. „Das war schon bewegend – das sind Menschen, die wirklich dort wegmüssen, weil ihr Leben dort gefährdet ist“, sagt der Pilot. Der größte Teil jener, die evakuiert wurden, waren nämlich Menschen, die in irgendeiner Funktion für die Alliierten gearbeitet haben. „Dann wäre es falsch, sie aufzugeben“, ergänzt Olsem. Trotzdem sei es nicht möglich gewesen, alle mitzunehmen. Das war im Zeitraum, den die Taliban festgelegt hatten, nicht möglich.
Auf Videos, die ihre Runden durch das Internet gemacht haben, hat man gesehen, wie sich Personen von außen an den Flugzeugen festgehalten haben, um noch mitgenommen zu werden. Daniel Olsem hat die Bilder auch gesehen. „Das war, bevor das Ganze stabilisiert und geregelt wurde. Als die Luftbrücke stand, war der Flughafen auch gesichert – die Menschen, die bei uns eingestiegen sind, waren alle betreut“, erklärt er. Zu dem Zeitpunkt habe es innerhalb des Flughafens kein Chaos mehr gegeben. Die Videos wurden also kurz nach dem Fall von Kabul aufgenommen, als eine Massenpanik entstand. „Die Amerikaner und die afghanische Armee, die vor Ort waren, mussten dann, mit zum Teil extrem rabiaten Methoden, den Flughafen sichern“, sagt Olsem. Dieses grobe Eingreifen habe schlussendlich tausende Menschenleben gerettet.
Diese Mission war Olsems letzte mit der C130-Maschine – seitdem fliegt er nur mit dem A400M. „Der Einsatz in Kabul war wirklich außergewöhnlich – es ist nicht oft, dass man Menschen während einer ‚Noncombatant Evacuation Operation’ retten kann“, sagt Daniel Olsem.
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