Gesundheit / Luxemburgs Pflegesektor im Teufelskreis von mentaler Belastung, Zeit- und Personalmangel
Personalmangel, Zeitmangel, mentale Belastung und realitätsfremde Chefetagen führen zunehmend zu Frustration im Pflegebereich. Präsidentin Danielle Koob und Generalsekretärin Diane Seyler-Servais der „Association luxembourgeoise des aides-soignant(e)s“ (ALAS) erzählen, wo der Missmut herrührt. Eine Erzieherin erklärt, wieso sie dem Druck nicht mehr standhalten wollte.
Sarah* ist ausgebildete Erzieherin. Drei Jahre lang hat sie in einem Behindertenwohnheim in Luxemburg gearbeitet – bis sie es nicht mehr schafft. Der Druck wird zu groß. Personalmangel, schlechte Führung und zu wenig Zeit vermischen sich zu einem toxischen Cocktail aus Stress und mentaler Belastung. Weil Sarah den Bewohnern nicht die Aufmerksam und Hilfe schenken kann, wegen derer sie ihren Beruf eigentlich erlernt hat, kündigt sie.
Wie Sarah geht es vielen Menschen, die im Pflegebereich angestellt sind. Die meisten kündigen nicht, sondern arbeiten, bis sie umfallen – und werden dann krankgeschrieben. Das sagt ALAS-Präsidentin Danielle Koob. Es ist ein Teufelskreis: Krankschreibungen führen zu noch mehr Personal- und somit Zeitmangel, der wiederum zu mehr Druck auf die Angestellten führt – auf die „aides-soignants“, auf die „infirmières“ und auch auf die Erzieher. Die Probleme gelten für Krankenhäuser, viel mehr aber noch für Alten- und Pflegeheime.
Sarah kümmerte sich zwischen 2017 und 2019 in einem Wohnheim um Menschen mit schwerer Behinderung. Eine Aufgabe, die sie nach wie vor liebt, wie sie sagt. Auch sie kennt das Problem mit den Krankschreibungen. Es sei mehr als einmal vorgekommen, dass eine Person sich kurzfristig krankgemeldet hat. „Auf der Frühschicht waren wir in der Regel zu dritt. Wenn eine Person nicht da war, blieben zwei übrig, um sich um zwölf Bewohner zu kümmern“, sagt sie. Sie wagt zu bezweifeln, dass das überhaupt legal war.
Ist das legal?
Was alleine zeitlich eine Herausforderung darstellte, wurde noch weitaus komplizierter. Denn manchmal waren es zwei Erzieherinnen, die sich die Schicht teilten. Laut Gesetz dürfen Erzieher den Bewohnern jedoch keine Medikamente geben. Das dürfen nur die „aides-soignants“ und die „infirmières“. „Die Menschen mussten ihre Medikamente trotzdem bekommen – und wir waren die Einzigen, die sie ihnen hätten geben können“, erinnert sich Sarah an die Zwickmühle. Obwohl es eigentlich illegal war, hat sie den Bewohnern ihre Medikamente gegeben. „Wir trugen eine Verantwortung und mussten uns schließlich um sie kümmern“, sagt sie – auch auf die Gefahr hin, gegen Regeln zu verstoßen.
Dass bei kurzfristigen Krankschreibungen häufig niemand einspringen kann, weiß auch Danielle Koob. „Dann bleibt meist etwas liegen und die dringenden Aufgaben müssen schneller erledigt werden“, sagt sie. Dadurch entstünde Unzufriedenheit, die Arbeit leidet und die Menschlichkeit bleibt auf der Strecke. Menschen wird eine Windel angezogen, obwohl sie eigentlich noch aufs Klo gehen könnten, oder sie werden nicht mehr richtig angezogen und verbringen den ganzen Tag im Pyjama. So versuchen überforderte Pfleger und Erzieher, Zeit zu sparen.
Selbst wenn jemand einspringen kann, trägt das nicht unbedingt zu einer positiven Arbeitsmoral bei. Beim ersten und beim zweiten Mal mache es vielleicht nichts aus, aber beim zehnten Mal dann schon. Das weiß Diane Seyler-Servais. Sie ist Generalsekretärin bei der ALAS und arbeitet als „aide-soignante“ in einem Altenheim. Sie hat vier Kinder und einen Job auf Teilzeitbasis. „Ich musste in einem Monat schon zweimal einspringen“, sagt sie. Angestellten würde allgemein häufig ans Herz gelegt, nicht Nein zu sagen. Seyler-Servais versteht einerseits, dass diejenigen, die Vollzeit arbeiten, keine Zeit mehr übrig haben, um einzuspringen. Auf der anderen Seite habe sie sich nicht umsonst für einen Teilzeitjob entschieden. Ständig einspringen zu müssen, erhöhe den Druck und trage zur Frustration bei.
Verlorene Menschlichkeit
Nach einer achtjährigen Pause ist die Mutter seit einem Monat wieder zurück im Job. Den Unterschied zu damals bemerkt sie deutlich. Besonders die Menschlichkeit sei vielerorts verloren gegangen. „Ich sehe, wie die jungen Pflegekräfte rennen. Sie sind darauf getrimmt, dass alles schnell gehen muss“, sagt Seyler-Servais. Als sie als junge Frau ihren ersten Job als „aide-soignante“ angefangen hat, sei Herzlichkeit und Ruhe noch viel präsenter gewesen.
Sarah ist einer dieser jungen Menschen, die auf das Rennen getrimmt wurden. Und sie ist frustriert. An ihrem Arbeitsplatz sei es unmöglich gewesen, bei der Chefetage etwas zu bewegen. „Auf die Meinung von Erziehern wird nicht viel Wert gelegt“, sagt sie. Auch wenn sie bei Ungerechtigkeiten oft den Mund aufgemacht hat, habe sie häufig nichts gesagt. „Es ist, wie es ist, habe ich mir dann gedacht.“ Ein Satz, den Pflegekräfte und Erzieher mit der Zeit immer häufiger denken. Dahinter stecken ständige Enttäuschungen und das Treffen auf taube Ohren bei den Chefetagen. „Es gibt viele Menschen im Pflegesektor, die ihren Job mit Herz machen. Aber wer mit dem Herzen dabei ist, stößt schnell an seine Grenzen“, sagt Sarah.
Für die „aides-soignants“ kommt ein weiterer Frustrationspunkt hinzu. Sie dürfen nicht überall die Aufgaben ausführen, die sie erlernt haben. Dabei sehen Danielle Koob und Diane Seyler-Servais eine gewisse Willkür darin, wie die Chefetagen darüber entscheiden, was „aides-soignants“ dürfen und was nicht. Während Danielle Koob an ihrem Arbeitsplatz alle einem „aide-soignant“ zugeschriebenen Aufgaben ausführen darf, wurde Diane Seyler-Servais in ihrer Karriere schon einiges untersagt. „In einem Haus durfte ich noch nicht einmal den Blutdruck messen“, erzählt sie. „Dass ‚aides-soignants‘ nicht in allen Häusern ihre Attributionen, wie sie im Gesetz stehen, ausführen können, ist ein großer Verlust“, sagt Danielle Koob. Wer drei Jahre lernt, wie etwas richtig gemacht wird, und es dann nicht machen darf, ist frustriert.
Allgemein käme es häufig vor, dass die Chefetagen nicht wissen, was sich im echten Arbeitsalltag abspielt. „Dort, wo ich während des Lockdowns gearbeitet habe, habe ich in den zwei Monaten niemanden aus der Chefetage angetroffen“, sagt Diane Seyler-Servais. Die Pflegekräfte seien in dieser Zeit die einzigen Bezugspersonen der Bewohner gewesen. Sie waren es, die die Menschen aufgefangen haben. Und auch außerhalb der Krise vertrauen sich Menschen einem an, wenn sie gepflegt – sprich angezogen, gewaschen usw. – werden. „Dann erzählen sie einem, was sie bedrückt“, sagt Danielle Koob. Zum Beruf gehöre Respekt, Freundlichkeit, Menschlichkeit und Verstand. Das alles habe eben auch viel mit Psychologie zu tun.
Zweiklassengesellschaft
Dieser Beruf, der so viel von den Menschen, die ihn ausführen, abverlangt, wird Koob und Seyler-Servais zufolge nicht genügend wertgeschätzt. Zum einen wegen der Attributionen, die mancherorts nicht ausgeführt werden dürfen. Zum anderen gibt es Danielle Koob zufolge auch Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung. „’Aides-soignants‘ verdienen zum Beispiel genau so viel wie ‚auxilliaires de vie‘, dabei haben diese eine andere Ausbildung und dürfen laut Gesetz weniger Aufgaben übernehmen“, sagt Koob. Das mache sie und ganz viele andere in ihrem Beruf wütend.
Wovon die „infirmières“ genauso betroffen sind wie die „aides-soignants“ sind die zwei verschiedenen Kollektivverträge im Pflegesektor. Der eine läuft über die „Entente des hôpitaux luxembourgeois“ (EHL) und gilt für alle, die in luxemburgischen Krankenhäusern arbeiten. Der andere Kollektivvertrag ist der des Dachverbandes der Pflegeleistenden in Luxemburg, Copas. Er gilt für die Mitarbeiter aller Pflegeheime des Landes. „Während der Vertrag der EHL von OP-Kosten finanziert wird, werden die Copas-Verträge von der Pflegeversicherung bezahlt – und Letzterer ist wesentlich schlechter“, sagt Danielle Koob. Der Copas-Vertrag ist inzwischen ausgelaufen, gilt aber noch, bis ein neuer ausgearbeitet wurde. „Wir kämpfen für einen einheitlichen Kollektivvertrag für den Pflegesektor“, sagt die ALAS-Präsidentin. Noch diese Woche habe die Vereinigung einen Brief mit ihren Forderungen an die Gewerkschaften und den Dachverband verschickt.
Bei Sarah war es vor allem die Chefetage, die zur abnehmenden Motivation beigetragen und am Ende zu ihrer Kündigung geführt hat. Denn diese habe nicht mehr auf den Menschen geachtet. „Die Preise in den Heimen steigen immer weiter und es wird immer mehr von den Bewohnern verlangt“, sagt Sarah. Eine der Frauen, die sie betreut hat, sei einmal weinend von der Arbeit in der Behindertenwerkstatt gekommen, in der sie seit Jahren demselben Job nachgeht. „Sie hatten ihr gesagt, dass sie vielleicht an einen anderen Arbeitsplatz versetzt werden muss, weil sie ihre Aufgabe nicht schnell genug verrichtet“, erinnert sich Sarah. Die Erzieherin versteht, dass selbst die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt nicht ganz ohne Produktivität auskommt. „Trotzdem ist es absurd, einen Menschen mit Behinderung infrage zu stellen, weil er seine Arbeit macht – nur eben langsamer, als es von ihm erwartet wird.“
Der Job in dem Behindertenwohnheim sei jedenfalls nicht mehr mit ihrer eigenen Arbeitsethik übereinzubringen gewesen, sagt Sarah. In Zukunft will sie vielleicht ein Kind mit Behinderung in der Schule begleiten. Dann hätte sie endlich genügend Zeit für das, was ihr in ihrem Beruf am wichtigsten ist: sich intensiv mit einem Menschen zu beschäftigen.
*Name der Redaktion bekannt
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