Editorial / Macron ignoriert den Wählerwillen
Es war kurz vor zwölf in Frankreich. Das rechtsextreme Rassemblement national (RN) hatte Anfang Juni die Europawahl gewonnen und Ende desselben Monats die erste Runde der Parlamentswahl für sich entschieden. Ein endgültiger Sieg von Marine Le Pens Partei in der Stichwahl und eine Kohabitation von Präsident Emmanuel Macron mit einer Regierung von RN-Shootingstar Jordan Bardella standen kurz bevor.
Doch schließlich entschieden sich die Franzosen an den Wahlurnen mehrheitlich für den Nouveau Front populaire (NFP). Das linke Bündnis erreichte im zweiten Wahlgang überraschend mehr Wahlkreise für sich als Macrons bürgerliches Bündnis Ensemble pour la République und der RN. Mit ihrem Sieg in 178 von 577 Wahlkreisen kam der NFP damit auf 31 Prozent der Sitze im Parlament. Der Sieg der Rechten wurde verhindert.
Zwar bildet die linke Volksfront aus Sozialisten, Grünen, Kommunisten und La France insoumise (FI) keine Fraktion in der Nationalversammlung, stellt aber die stärkste politische Kraft dar. Ein Faktor, den Macron mit der Bildung ignoriert. Demokratie hänge von der „Ermächtigung“ der Bürger ab, betonen Craig Calhoun, Dilip P. Gaonkar und Charles Taylor in ihrem Buch „Zerfallserscheinungen der Demokratie“. Ansonsten zerfalle sie mit ihrer „Entmächtigung“.
Letztere betreibt Macron, der – unter Missachtung der demokratischen Grundregeln und des Wahlergebnisses – die anstehenden Herkulesaufgaben einer rechtsorientierten, von Premierminister Michel Barnier angeführten Regierung anvertraut. Zwar fallen dem liberalen Präsidentenlager einige Schlüsselposten zu und wird die Geschlechterparität gewahrt, einen großen Einfluss bekommen jedoch Barniers konservative Républicains eingeräumt, die bei der Wahl nur auf 47 der insgesamt 577 Abgeordnetensitze kamen.
So ist etwa Innenminister Bruno Retailleau dem rechten Flügel der Republikaner zuzuordnen. Er hatte sich bereits gegen das Recht auf Abtreibung in der Verfassung und die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe eingesetzt. Er gilt außerdem als Hardliner in Sicherheits- und Migrationsfragen. Retailleau tritt für eine verschärfte Einwanderungspolitik ein, mit mehr Abschiebungen und weniger Aufenthaltsgenehmigungen für Sans-Papiers. „Wir müssen den Mut zur Härte haben“, fordert er und lobt die deutschen Grenzkontrollen. Es ist jene Politik der „neuen Härte“, die zurzeit europaweit anzutreffen ist, eine fatale Strategie der Anbiederung an die extreme Rechte, um dieser das Wasser abzugraben.
So ist es allzu verständlich, dass das Kabinett von Premierminister Barnier, gegen den bereits Zehntausende von Menschen demonstrierten, auf Empörung trifft. Etwa bei Olivier Faure: Der Erste Sekretär der Sozialistischen Partei (PS) spricht von einer „reaktionären Regierung, die der Demokratie den Stinkefinger zeigt“ und sieht vor allem bei Retailleau eine „ideologische Durchlässigkeit zu Positionen der Rechtsextremen“. Derweil nannte Le Monde die Regierung eine „alliance de perdants à rebours du front républicain“. Auf den Straßenverkehr übertragen, ist diese Regierungsbildung wie „links blinken, aber rechts abbiegen“ – oder gar rechts überholen. Was einem ausgeprägten Verkehrsrowdytum entspräche.
Aber hatte das französische Wahlvolk wirklich den Blinker links? Über die vergangenen Monate betrachtet, bewegt sich das politische Frankreich eher nach rechts und wirkt die Stichwahl vom 9. Juli eher als Warnblinklicht vor einer möglichen rechtsextremen Machtübernahme. Diese schwebt wie ein Damoklesschwert über den labilen politischen Verhältnissen. Eine erste Bewährungsprobe für die Regierung dürfte die Haushaltsdebatte im Oktober sein. Macron hat die Linke vor den Kopf gestoßen. Vor allem aber hat er die Wähler „entmächtigt“ und der Demokratie geschadet. Ein hoher Preis.
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