/ Mal die Sichtweise wechseln: Wie Studierende der Uni Luxemburg Tambow erlebten
Wenn politische Interessen Länder und Menschen auseinandertreiben, müssen Letztere sich bemühen, zusammenzufinden. Ihren akademischen Beitrag dazu leisten die Universitäten von Luxemburg und Tambow.
Für die meisten Luxemburger ist der Name Tambow ein Schlagwort für den Zweiten Weltkrieg. Mehr als tausend Luxemburger Zwangsrekrutierte, die in russische Kriegsgefangenschaft geraten waren, verbrachten den Rest des Krieges im Lager 188 bei Tambow, 420 Kilometer von Moskau entfernt. Nicht alle überlebten.
Seit Jahrzehnten besucht die „Amicale des anciens de Tambov“ die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Eine Gedenkstätte unweit des Eisenbahnhofs Rada, wo die Gefangenen ankamen, erinnert seit 2012 an das Schicksal der jungen Männer aus Luxemburg.
Die Beziehungen zwischen Luxemburg und Tambow sind nun um eine weitere akademische Ebene bereichert worden. Vor wenigen Tagen hielt sich erstmals eine Gruppe Studierender der Uni Luxemburg in Tambow auf. Bereits im Oktober 2018 hatten sich rund 40 Studentinnen und Studenten der Tambower Universität am ersten Teil des russisch-luxemburgischen interdisziplinären Seminars „Russland und Luxemburg an den Kreuzungen der Geschichte“ an der Luxemburger Uni beteiligt.
Außergewöhnliche Reise
Auch zwei Wochen nach der Rückkehr stehen die vier Studierenden, die das Tageblatt gestern in den Räumlichkeiten des Luxemburger „Instituts für zeitgenössische und digitale Geschichte“ (C2DH) traf, sichtlich noch unter dem Eindruck ihrer ungewöhnlichen Reise. Durch kniehohen Schnee stapfend legten sie einen Teil der Strecke zurück, die vor fast 80 Jahren die Kriegsgefangenen ins Lager bewältigen mussten – eine „Nicht Klassenraum-bezogene Lernform der geschichtlichen Rekonstruktion als praktische Erfahrung“. Für ihn und etliche andere Studierende sei es das bisher entfernteste Reiseziel gewesen, berichtet Gabriel Ndoja. Was übrigens auch für die meisten russischen Studierenden galt, fügt er hinzu.
Warum ausgerechnet die Uni Tambow, um die Beziehungen zwischen Luxemburg und Russland zu studieren? „Die Idee zu diesem Seminar kam 2017 bei einem Historikertreffen in St. Petersburg anlässlich des 100. Jahrestages der russischen Oktoberrevolution“, erklärt Guido Lessing, Forscher am C2DH. Er sei erstaunt über Bemerkungen russischer Kollegen gewesen, warum denn der Westen so gegen Russland eingestellt sei. Diese seien dann froh gewesen zu hören, dass dem nicht so sei. „Wenn die auf der obersten Ebene sich nicht verstehen, muss man ganz unten anfangen“, so Lessing. Warum nicht also Geschichtsstudenten zusammenbringen und diese Lehrveranstaltung ins Leben rufen?
„Die Idee war, junge Leute zusammenzuführen, bevor sie beruflich aktiv werden“, erläutert Dr. Inna Ganschow, die an der Uni Luxemburg über die russische Immigration in Luxemburg forscht. Die Wahl fiel auf Tambow wegen der besonderen Beziehungen, die das Großherzogtum zu dieser Stadt hat. Ganschow selbst hatte sich bereits vor drei Jahren in Zusammenhang mit ihrer Forschungsarbeit in Tambow aufgehalten. Auch für die russischen Studenten sollten die Lehrveranstaltungen einen Bezug zu ihrer Stadt haben, um so ihr Interesse zu wecken. Das Lager mit den Luxemburger Gefangenen ist ein solcher Bezugspunkt.
Unterschiedliche Wahrnehmung
Feststellen konnten die Studierenden, wie unterschiedlich der Zweite Weltkrieg in beiden Ländern wahrgenommen wird. Für Luxemburg ist Tambow und das Thema der Zwangsrekrutierten eines der wichtigsten Kapitel der Geschichte, für die Russen spielt es eine untergeordnete Rolle. „Die Frage der Zwangsrekrutierten ist für sie ein kleines Kapitel der Geschichte“, erörtert Lessing. „Es war interessant festzustellen, wie die russischen Studierenden die Geschichte und den Alltag der Menschen während des Krieges wahrnahmen. Für die russischen Studenten ist der Zweite Weltkrieg extrem wichtig“, merkt Alex Lepesant an.
Abgesehen von einigen Kommunikationsproblemen zu Beginn gab es keine Schwierigkeiten zwischen den Studierenden beider Länder. Man habe schnell gemeinsame Interessenfelder festgestellt, so Noémie Kettenmeyer. Von den Verwerfungen der großen Politik haben die Studierenden wenig gespürt. Das sei eh nur Propaganda, sagten die russischen Kommilitonen über die betont antiwestlichen Sendungen der großen TV-Anstalten. Dennoch will Kettenmeyer festgestellt haben, dass die Ansichten der jungen Russen, die sich auch über andere Medien informieren, doch noch von den Erfahrungen der Eltern mitgeprägt werden. Insgesamt seien die aktuellen Spannungen zwischen dem Westen und Russland kein Thema gewesen, so Alex Lepesant. Nur am Anfang wollten die Russen wissen, was man denn so von Putin halte, fügt Kettenmeyer hinzu.
Ihre Wirkung im Alltag hat die Staatspropaganda scheinbar doch. „Man wurde nicht immer freundlich angeschaut, wenn man sich auf Englisch unterhielt“, meint Sarah Mirti. Was sich aber gleich änderte, als die Gegenseite feststellte, dass die Studierenden nicht aus den USA stammten. Man habe über alle möglichen Themen diskutieren können. „Es gab keine Tabuthemen“, so Mirti. Auf akademischem Niveau spreche man offen über Politik, erklärt Ganschow.
Dialogkompetenz fördern
Zweck der Lehrveranstaltungen war es ebenfalls, die Dialogkompetenz zu fördern, betont Inna Ganschow. „Dass man miteinander reden und leben kann, auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist.“ Erfreut zeigt sich Gabriel Ndoja in diesem Zusammenhang über seine Erfahrungen bei der Diskussion nach seinem Referat über die Ereignisse im Jahr 1919 in Luxemburg und Russland. Man habe viele Gemeinsamkeiten festgestellt. Es habe keine feindseligen Bemerkungen gegeben.
Die geknüpften Kontakte wollen die Studierenden aufrechterhalten. Und einige wollen noch weiter gehen. Sowohl Alex Lepesant als auch Gabriel Ndoja schließen einen weiterführenden Studienaufenthalt an der Tambower Uni nicht aus. Ganschow betont die Bedeutung des Studentenseminars. Auch junge Menschen aus Luxemburg sollten nach Tambow fahren. Mangelnde Nachfrage von russischer Seite besteht keine. Derzeit studieren vier Tambower im Großherzogtum. Wichtig sei der Perspektivenwechsel bei historischen Ereignissen, der durch akademische Veranstaltungen möglich werde, unterstreicht seinerseits Lessing.
In Tambow selbst weckte der Aufenthalt der Luxemburger Studierenden viel Aufmerksamkeit. Mehrmals berichteten der Regionalfernsehsender „Vesti Tambov“ und mehrere Online-Portale darüber. Wie sich die Beziehungen zwischen beiden Lehranstalten weiterentwickeln werden, ist noch unklar. Konkret ist indessen bereits die Einladung an die Luxemburger, am 9. Mai in Tambow an den Feierlichkeiten zum Tag der Unterzeichnung der Kapitulation Deutschlands nach Moskauer Zeit teilzunehmen. „Das wäre eine Gelegenheit, die unterschiedlichen Erinnerungskulturen zu analysieren“, merkt Inna Ganschow an.
Innovative Lernform
Mit dem russisch-luxemburgischen interdisziplinären Seminar „Russland und Luxemburg an den Kreuzungen der Geschichte“ hat das C2DH eine Lehrveranstaltung in einer innovativen Lernform angeboten – interdisziplinär und international, so das Zentrum. Im zweiten Teil der Seminarveranstaltung seien die bereits angesprochenen Themen des ersten Teils vertieft sowie die beiden Weltkriege, die Zwischenkriegszeit und der Kalte Krieg auf Grundlage neuer Quellen aus russischer und luxemburgischer Perspektive untersucht worden. „Es nahmen diesmal auch Studierende der Geschichte, Philologie, Kunstgeschichte und der internationalen Beziehungen an dem Seminar teil, die zur Analyse und Interpretation der Zeitgeschichte Luxemburgs und Russlands beitrugen“, heißt es in einer Mitteilung von Inna Ganschow und Guido Lessing.
Und weiter: „Im Seminar wurde neben der klassischen Form der Seminarveranstaltung auch mit der nicht Klassenraum-bezogenen Lernform der geschichtlichen Rekonstruktion als praktische Erfahrung operiert (z.B. Nachgehen des Weges der Luxemburger Gefangenen von der Bahnstation bis zum Lagerort in Tambow).“ „Oral History Skills konnten eingeübt werden, indem Studierende Luxemburger Zeitzeugen für ihre Präsentation befragt und deren Aussagen in den historischen Kontext gesetzt haben. Außerdem konnten die Studierenden durch das Treffen mit einem russischen Zeitzeugen der Luxemburger Gefangenschaft die historischen Zeugnisse abgleichen (Oral History aus der anderen, nicht Gefangenen-zentrierten Perspektive).“
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