Theater / „Maximal fremd und anatomisch unspielbar“: Ursina Lardi über ihre Rolle(n) in Thorsten Lensings „Verrückt nach Trost“
2018 hatte sich Thorsten Lensing an David Foster Wallaces Meisterwerk „Unendlicher Spaß“ herangewagt und den je nach Auflage und Übersetzung fast 1.500-seitigen Mammuttext auf knappe vier Stunden Spielzeit verdichtet. Mit „Verrückt nach Trost“ bringt er zum ersten Mal einen selbst verfassten Text auf die Bühne, in dem es u.a. um Waisenkinder, Oktopusse, Pflegeroboter und den Tod geht – und in dem er erneut mit Devid Striesow, André Jung und Ursina Lardi zusammenarbeitet. Das Tageblatt hat sich mit der Schweizer Schauspielerin Ursina Lardi über die große poetische Freiheit dieser Inszenierung, Schauspielerei als Erkenntnisinstrument und die Verwandtschaft zwischen Mensch und Oktopus unterhalten.
Tageblatt: In „Unendlicher Spaß“ spielten Sie (u.a.) den jungen Teenager Hal Incandenza, der mit seiner Marihuana-Abhängigkeit, dem Mikrowellenfreitod des Vaters und dem Leistungsdruck an der Tennis-Uni zu kämpfen hat. In „Verrückt nach Trost“ schlüpfen Sie erneut in die Figur der (anfangs) jungen Charlotte, es geht zudem wieder um Trauerarbeit. Gibt es für Sie eine (schauspielerische, theaterästhetische) Kontinuität zwischen den beiden Projekten?
Ursina Lardi: Die Kontinuität ist weniger inhaltlich als vielmehr eine Entwicklung hin zu einer immer größeren Freiheit. Wir glauben mittlerweile nicht mehr, dass es irgendwas gibt, das wir nicht spielen können, seien es nun Babys, Schildkröten, Pflegeroboter oder alte Menschen, die auf den Tod warten. Und spielend gehen einem Dinge auf, die man unmöglich anders erfahren kann. Spiel ist ja auch ein Erkenntnisinstrument. Für uns, aber eben auch für die Zuschauer.
Thorsten Lensing hat sich an kein Stadttheater gebunden, arbeitet aber gerne mit vertrauten Gesichtern, weswegen bei „Verrückt nach Trost“ neben Ihnen auch andere Schauspieler, die man bereits bei „Unendlicher Spaß“ auf der Bühne sah, mitspielen. Wie inspirierend ist es, mit den gleichen Menschen zusammenzuarbeiten?
Die gemeinsam verbrachte Zeit, in unserem Fall zum Teil viele Jahre, ist durch nichts zu ersetzen. Das Vertrauen ist da. Es geht vom ersten Tag an zur Sache. Gerade, weil wir uns so gut kennen, ist es möglich, jede Routine, die oft durch Selbstschutz und Unsicherheit entsteht, zu vermeiden. Wir trauen uns, uns gegenseitig zu überraschen, auch mal daneben zu sein, zu viel zu sein, schwach zu sein.
In einem seltenen Interview erklärt Thorsten Lensing, die „üblichen naturalistischen Besetzungskriterien wie Geschlecht und Alter […]“ interessierten ihn „zurzeit nicht“. Gleichzeitig lehnt er Kriterien wie „pflegeleicht“ ab und mag es, mit „autoritären Schauspielern“ zu arbeiten. Wie viel Freiheit haben Sie als Schauspielerin in diesem Spannungsfeld zwischen der Aufhebung üblicher Besetzungskriterien und den potenziell raumeinnehmenden „autoritären“ Schauspieler*innen?
Ich habe da enorm viel Freiheit und auch viel Verantwortung. Das motiviert mich ungemein. Von mir wird man nie hören: Weiß nicht, finde die Szene, die Rolle, das Stück auch blöd, aber die Regie sagt halt, wir sollen das so machen. Was wir Spieler*innen da tun, wollen wir genau so machen. Sowas überträgt sich, diese Kraft und dieses Bewusstsein spürt das Publikum.
Im selben Interview sagt Lensing: „Ich könnte keine Sekunde proben, wenn ich glauben würde, dass meine Inszenierung irgendein Ziel verfolgen, irgendeinen Zweck erfüllen soll“. Fühlt man sich als Schauspielerin da nicht ein wenig verloren? Bei Milo Rau, mit dem Sie ja auch oft zusammengearbeitet haben, gibt es ja meistens eine sehr deutliche, politische Zielsetzung …
Nein, ich fühle mich da nicht verloren, ich kann bei unterschiedlichsten Arbeitsmethoden produktiv sein. Man darf Thorstens Weigerung, ein Ziel oder einen Zweck zu verfolgen, übrigens nicht mit Beliebigkeit verwechseln. Bei uns hat jede Szene eine innere Notwendigkeit, eine Richtung und Klarheit, die sich zwingend aus der intensiven Vorbereitung, der geduldigen und tiefen Beschäftigung mit dem Stoff und den Proben ergibt. Eine sogenannte Zielsetzung gibt es auch bei Milo Rau nicht, es gibt da eine politische Auseinandersetzung, die dann den Abend prägt, manchmal aber auch auf eine ganz andere Weise als erwartet.
Welche schauspielerischen Herausforderungen stellte Ihnen die Rolle des sprechenden Oktopus?
Tiere kann ich nicht, dachte ich immer und habe bisher tunlichst vermieden, es zu tun. Aber Oktopus? Da hatte ich sofort eine Fantasie dazu, vielleicht gerade, weil es kein Säugetier und uns maximal fremd ist, anatomisch eigentlich unspielbar. Aber emotional gibt es erstaunliche Parallelen zwischen einem Oktopus und der Figur der Charlotte. Der Oktopus ist, wie sie, ein Waise. Der Vater stirbt bei der Zeugung, die Mutter nach der Geburt. Charlotte ist zu viel für die Welt, sie ist einsam, weil unter ihr alle zusammenbrechen. Und auch ein Oktopus hat zu viel von allem, er hat neun Gehirne, acht Arme und drei Herzen. Er kann sich aber nicht weiterentwickeln, weil er keine Eltern hat, sondern muss immer bei null anfangen. Mich persönlich berührt das sehr, diese Vorstellung, dass Oktopusse mit ihrer ganzen Intelligenz in einer evolutionären Sackgasse stecken, kein Wissen kumulieren, nichts weitergeben, sich also nicht weiterentwickeln können.
Rezente Avant-Garde-Fiktion interessiert sich immer mehr für die Tierwelt – ich denke an Éric Chevillards „Sans l’orang-outan“, an Will Selfs „Great Apes“ oder auch an Jerzy Skolimowskis sehr schönen Cannes-Wettbewerbsbeitrag „EO“. Es geht dabei oft um unsere Ausbeutung der Tiere, um menschliche Verantwortung am Aussterben von Tierarten. Wie sehen Sie die kafkaesk klingenden Metamorphosen in „Verrückt nach Trost“?
Darum geht es bei uns nicht. Die Tiere haben bei uns keine politische Botschaft, sie sind einfach da, teilen sich mit uns den Bühnenraum, manche treten in Kontakt mit uns Menschen, andere nicht. Sie haben ihre eigene Zeit, ihre eigenen Gedanken und Bedürfnisse, sie verursachen Chaos und schenken uns manchmal einen frischen Blick auf vermeintlich Bekanntes.
Neben Ihren vielen künstlerisch stets spannenden Theaterprojekten, sieht man Sie auch viel im Kino, rezent haben Sie in „La dérive des continents (au sud)“, einem recht kritischen Spielfilm über die europäische Flüchtlingspolitik, die Rolle einer Regierungsdelegierten gespielt, die den Besuch der Bundeskanzlerin in einem sizilianischen Flüchtlingslager koordinieren soll. Gibt es zwischen den Schauspielformen Theater und Kino rote Fäden, Themen, die bei der Rollenauswahl wichtig sind? Wie wichtig sind Ihnen politisch kritische Projekte?
Nun, ein roter Faden ist, dass ich nach komplexen Spielaufgaben und Inhalten suche. Ich will weder mich noch das Publikum langweilen. Diese Inhalte können politisch sein, müssen es aber nicht.
Info
„Verrückt nach Trost“ wird morgen und am Samstag um 19.00 Uhr sowie Sonntag um 17.00 Uhr im Grand Théâtre gespielt. Am Samstag um 17.00 Uhr, also zwei Stunden vor der Aufführung, liest Devid Striesow Aphorismen, kurze Prosatexte, sowie Auszüge aus Canettis Autobiografie und dem philosophischen Werk „Masse und Macht“. Während dieser szenischen Lesung gestalten die beiden jungen Luxemburger Theatermacher Dan Kolber und Thierry Mousset, die auch für die Dramaturgie von „Verrückt nach Trost“ verantwortlich zeichnen, „ein Bühnenerlebnis, in dessen Zentrum die Kraft der Verwandlung steht“.
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