Editorial / Mehrfachversagen – der Nahost-Konflikt und das Prinzip der Polarisierung
Wie viele Debatten unserer Zeit zeichnet sich die Diskussion um den Nahost-Konflikt durch eine starke Polarisierung aus. Dies stellte kürzlich der Soziologe und Kulturwissenschaftler, Antisemitismus- und Protestforscher Peter Ullrich fest. Auch der zur humanitären Katastrophe eskalierte israelische Angriff auf Gaza als Antwort auf die Hamas-Terrorattacke vom 7. Oktober 2023 wird in einem Schwarz-Weiß-Schema betrachtet. Dabei erfordert die komplexe Gemengelage im Nahen Osten eine Differenzierung.
Im Tageblatt-Forum vom 21. August hat der Politologe Armand Clesse auf das „politische und moralische Versagen des Westens“ und auf dessen Mitschuld hingewiesen. Er kritisiert: „Der Westen hätte gleich zu Beginn des Krieges stärker reagieren müssen. Doch man hat die Regierung Netanjahu gewähren lassen, hat Verständnis und sogar Sympathie für ihr Handeln gezeigt, vor allem auf Seiten der Deutschen, der Franzosen, aber auch der EU in der Person der deutschen Kommissionspräsidentin, von Seiten der amerikanischen Regierung.“ Israel sei eine Blankovollmacht erteilt worden.
Unterdessen sind Kultur und Universitäten zu Nebenschauplätzen eines Krieges geworden, wie etwa der Eurovision Song Contest in Malmö im vergangenen Mai, als Demonstrationen gegen die israelische Sängerin Eden Golan stattfanden. Zeitgleich mit dem blutigen Konflikt zwischen Zionismus und palästinensischem Nationalismus findet ein Stellvertreterkrieg zwischen Antisemitismus und Antisemitismus-Kritik, zwischen Protest und Diskreditierung von Protest statt. Den einen wirft man holzschnittartig Islamophobie und Neokolonialismus vor, den anderen Judenhass und Antizionismus – ganz im Sinne der Freund-Feind-Logik. Peter Ullrich bemängelt, dass Widersprüche nicht ausgehalten und Ambivalenzen in der öffentlichen Debatte „vereindeutigt“ würden. Dabei gebe es „ein großes Feld von Grauzonen und Uneindeutigkeiten. Und einen Realkonflikt.“
Zur Differenzierung gehört, den Konflikt im Kontext der gesamten Region und darüber hinaus in seiner weltpolitischen Bedeutung zu betrachten. Wenn man vom Versagen des Westens im Nahen Osten spricht, sollte man auch nicht über die Rolle des Iran in dem Konflikt schweigen. Das Regime in Teheran hat die sunnitische Hamas 2023 mit 70 Millionen US-Dollar unterstützt, 30 Millionen sollen an den Islamischen Dschihad geflossen sein. Und dass die schiitische Hisbollah die Speerspitze des Iran im Libanon ist, dürfte bekannt sein.
Dass der Krieg in Gaza noch nicht zu einem Flächenbrand geworden ist, liegt wohl daran, dass der Iran kein großes Interesse an einer weiteren Eskalation hat. Er bevorzugt einen Schwelbrand in Form eines hybriden Krieges, mithilfe von Hamas und Hisbollah, schiitischen Milizen im Irak und jemenitischen Huthi-Rebellen am Roten Meer – mit einer Allianz, die sich als „Achse des Widerstands“ bezeichnet, deren Fäden in Teheran zusammenlaufen und deren Feinde Israel und die USA sind.
Die Islamische Republik Iran hat dieses Jahr ihren 45. Geburtstag gefeiert. Doch für viele Iraner gab es nichts zu feiern. Sie haben vor allem Armut, Leid und Repression erfahren. Alle paar Jahre geht eine Protestwelle durchs Land, zuletzt unter dem Motto „Frau, Leben, Freiheit“. Während sich das Mullah-Regime durch Terror an der Macht hielt und in der Region nach hegemonialer Macht strebte, haben die westlichen Regierungen trotz der Menschenrechtsverletzungen im Iran einfach zugesehen und sich für ein Atomabkommen gefeiert, das die Diktatur vor allem stärkte.
Wie der deutsch-iranische Autor Bahman Nirumand einmal schrieb, schraubten sowohl die Herrscher im Iran als auch in Israel ihre Feindschaft künstlich hoch, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Sie sind dabei nicht die Einzigen in der Region, unter anderem Baschar al-Assad in Syrien und Recep Tayyip Erdogan im NATO-Staat Türkei tun es ihnen nach. Und der Westen lässt sie gewähren.
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