Luxemburgensia / „Meine Insel“ von Raoul Biltgen: Schiffbruch der guten Ansätze
Raoul Biltgens Robinsonade „Meine Insel“ ist eine Parabel auf das europäische Festungsdenken und auf die Fremdenfeindlichkeit von heute. Damit bleibt der Autor jedoch unter seinen Möglichkeiten.
Mit Schiffbrüchigen verbindet man heute vor allem die Tausenden von Menschen, die Jahr für Jahr auf der Flucht vor Krieg und Elend über das Meer nach Europa kommen. Viele von ihnen haben die Überfahrt nicht geschafft, sind ums Leben gekommen oder gelten als vermisst. Als Robinsonade wird in der Regel der Schiffbruch eines einzelnen Menschen verstanden, der auf einer vermeintlich einsamen Insel strandet. Er befindet sich in einer unfreiwilligen Isolation in einer für ihn fremden Gegend. In diesem Sinne ist auch das Schicksal der Flüchtlinge von heute dem des Seemannes Robinson Crusoe in Daniel Defoes berühmtem Roman aus dem Jahr 1719 ähnlich. Denn auch sie sind weitgehend auf sich allein gestellt – und die neue Umgebung, in der sie sich befinden, ist nicht selten feindlich gesinnt oder begegnet ihnen mit Argwohn.
Die Robinsonade hat als literarische Untergattung und Motiv einen langen Weg hinter sich, der bereits weit vor Defoe begann – zum Beispiel bei „Der Schiffbruch“ des Nürnberger Schriftstellers Georg Philipp Harsdörffer im 17. Jahrhundert, Züge der Robinsonade finden sich jedoch schon bei Homers „Odyssee“. Der Begriff selbst wurde von Johann Gottfried Schnabel geprägt: „Wunderliche Fata einiger Seefahrer“. Eine von Ludwig Tieck überarbeitete Version ist „Die Insel Felsenburg“ (1828). In Defoes Roman macht Robinson einen Wandel zum „guten Menschen“ durch, der den Einheimischen, den er Freitag nennt, vor den Kannibalen rettet und zum Diener macht. Moralphilosophische Fragen wie der Konflikt zwischen Natur und Zivilisation, Individuum und Gesellschaft spielen dabei eine Rolle.
Auch in Raoul Biltgens neuem Buch „Meine Insel“ befindet sich ein Mann auf einer einsamen Insel. Auch er ist ein Schiffbrüchiger. Früher hieß er Jean-Marie, nun nennt er sich Robinson. Wie sein literarischer Vorgänger hat er überlebt, indem er sich etwa Vorräte angelegt hat. Jean-Marie alias Robinson hat sich mit seinem Schicksal arrangiert und in der neuen Umgebung niedergelassen, indem er eine Hütte gebaut hat. Schließlich hat er auch einen Zaun errichtet, mit dem er sich vor möglichen Eindringlingen schützen und seinen Besitzstand, der er sich mühsam erworben hat, sichern kann. Die Eindringlinge sind die Fremden, die anderen: Piraten oder sogar Menschenfresser.
Der Fremde: Pirat oder Menschenfresser?
Der Bezug auf die Besitzstandswahrung der Europäer gegen die Immigranten von außerhalb Europas ist bei Biltgen offensichtlich. Der in Österreich lebende luxemburgische Schriftsteller und Theatermacher sowie Psychotherapeut, der neben Erzählungen, Gedichten und Romanen vor allem Bühnenstücke veröffentlicht hat und der 2021 den Glauser-Preis für einen Kurzkrimi sowie 2022 den Preis der Jugendjury bei den Mühlheimer Theatertagen erhielt, hat eine gesellschaftskritische Parabel über den Umgang mit dem Fremden verfasst. Seine Herangehensweise erinnert an die eines Comedians, wenn dieser seine Geschichte beginnen lässt mit den Worten „Auf einer einsamen Insel steht ein Mann am Strand und erzählt einen Witz.“ Die folgenden kurzen Kapitel des in zwei Teile gegliederten Buches, an deren Beginn jeweils ein Zitat aus Defoes „Robinson Crusoe“ steht, beginnen ähnlich: „Der Mann auf der einsamen Insel erzählt einen weiteren Witz“ oder „Der Mann auf der einsamen Insel kennt noch viele weitere Witze“.
Das klingt nach einer humorvollen Herangehensweise und ist es teilweise auch. Nur steckt die drohende Redundanz schon im Anfang, was als stilistisches Mittel über einen kurzen Teil des Buches wirkt, aber auf Dauer erlahmt und auch nicht dem ernsten Thema gerecht wird, dem sich der Autor durch eine lapidare Weise anzunähern versucht. Denn Jean-Marie aka Robinson schottet sich ab. Er hält am Strand Wache. Wie an den Außengrenzen der Europäischen Union entsteht an seiner Grenze ein Zaun. Die Alternative ist, sich mit den Fremden auszutauschen und von ihnen zu lernen. In der Tat taucht ein zweiter Schiffbrüchiger auf. Robinson nennt ihn Ay. Wie die Einsamkeit des Stand-Up-Comedians auf einer einsamen Insel war sein Dasein bisher eher eindimensional. Erzählt wird jedoch in der dritten Person. Mit dem Auftritt Ays gewinnt die Geschichte durchaus eine gewisse Dynamik durch die zweite Person. Während der erste Teil arm an Handlung ist – es passiert fast gar nichts, und der Leser ist vor allem Zeuge von Robinsons Gedankenwelt, wobei nicht klar ist, ob sein Dasein auf der Insel nicht dem Schein seiner Fantasie entspricht.
Fragmentarische Robinsonade
Ob es dem Leser so gehen wird wie dem Schiffbrüchigen und der erste Teil eher eine lange Durststrecke ist, sei dahingestellt. Die eigentliche Thematik, in der es um das Zusammenleben von Menschen geht, die sich zuerst fremd sind und die sich erst mühsam gegenseitig kennenlernen müssen, um überhaupt so etwas wie eine Gesellschaft zu bilden, ist aktueller denn je. Vor allem gibt es Barrieren und Unverständnis, wenn etwa Ay zu Robinson sagt: „Habe ich nicht das Recht, ein besseres Leben zu wollen?“ Dass „Meine Insel“ eben doch „Unsere Insel“ ist. Eine Frage, die sich Millionen und Abermillionen stellen, und ein Recht, das ihnen immer wieder abgesprochen wird. Wie die sich abgrenzende, hermetische Gedankenwelt des Protagonisten aussieht, ist im ersten Teil durchaus zu erfahren. Nur müsste dies über einen Plot geschehen, der seine Leser packt, den das Buch jedoch in der ersten Hälfte entbehrt und der in der zweiten Hälfte in fragmentarischen Kürzestkapiteln von teils nur einem Satz ausfranst. Die Angst und das Misstrauen vor dem Fremden als eigentliches Kernthema wird als Thema noch lange aktuell bleiben. Dafür braucht es jedoch Flachwitze im Stile von: „Was liegt am Strand und spricht undeutlich? Interessiert mich nicht. Eine Nuschel.“ Oder: „Begegnet ein Hai einem anderen. Das war’s? Sagt der eine Hai zum anderen: Hi.“ Das sind Sätze, die das Buch nicht braucht. Der Autor, dessen Idee interessant ist und die er ansatzweise gelungen umsetzt, auch nicht. Und der Leser schon gar nicht.
Raoul Biltgen: „Meine Insel – Eine Robinsonade“, Hydre Editions 2023, 216 Seiten, 17 Euro.
Les autres nouveautés chez Hydre Editions
Hydre Editions a présenté trois autres nouveautés en cette rentrée littéraire. Avec „Honorable Brasius“, Florent Toniello, surtout connu pour ses poèmes, a présenté sa deuxième œuvre de fiction, sous la forme de cinq nouvelles entremêlées et „reliées par l’étrange“. Le récent lauréat de la résidence d’auteur au Literarisches Colloquium à Berlin nous embarque, dans trois des cinq textes, à la rencontre de l’aveugle Brasius, „sorcier, clochard céleste ou charlatan“ que ses clients qualifient néanmoins d’honorable. On le suit en visite dans une communauté isolée dans la montagne enneigée, dont un enfant a des visions („Pas de neige“, titre emprunté aux Préludes de Debussy) puis on le retrouve dans deux nouvelles entrecoupées de deux bonds dans un futur fait de manipulations génétiques et d’opérations minières spatiales, d’où le sorcier disparaît.
Avec „Blasons d’histoire“, Jean Sorrente présente d’abord un ensemble de 53 fictions de courte taille liés par une „alchimie secrète“, des histoires vues, entendues et/ou vécues qui procèdent du roman, dont les protagonistes sont mus par le désir, „moteur de tous les mimétismes“. Ce livre hybride se poursuit avec trois contes puis un court fragment de journal intime.
Le dernier venu chez Hydre Editions est un recueil de textes de théâtre, intitulé „Theater théâtre theatre Theater 1“ (300 pages, 21 euros) dans lequel on retrouve les têtes de proue de la jeune génération: Samuel Hamen, „De Geescht oder D’Mumm Séis“, dans une adaptation d’un texte fameux de Dicks, visible au Grand Théâtre du 17 au 23 décembre, Jeff Schinker, („PatrIdiot“, joué au Kasemattentheater en octobre), Elise Schmit, „So dunkel hier“ sur le Gauleiter Simon, qui avait notamment été joué en février 2021 sur le parvis de Neimënster, dans une mise en scène d’Anne Simon et Larisa Faber, „340ד présenté en 2020 à Karlsruhe, écrit dans le cadre du projet „Die Neuen Todsünden“.
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