Kriminalität / Ein in Luxemburg ansässiger Konzern und seine mutmaßliche Verbindung zum Drogenkartell
Einem Dokument der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft zufolge soll eines der beiden mächtigsten Drogenkartelle, des Cártel de Jalisco Nueva Generación (CJNG), für die Entführung von Antonio Díaz Valencia und Ricardo Lagunes Gasca verantwortlich sein. Das Verschwinden der beiden Menschenrechtler steht, so die Justizbehörde, in Zusammenhang mit dem Streit zwischen der indigenen Bevölkerung und dem in Luxemburg ansässigen Bergbauunternehmen Ternium.
Zum letzten Mal wurden Ricardo Lagunes und Antonio Díaz am 15. Januar 2023 gesehen. Der 41-jährige Anwalt und der 71-jährige indigene Lehrer, der von der örtlichen Nahua-Gemeinschaft zum Vertreter gewählt werden sollte, fuhren in einem Pick-up von San Miguel de Aquila in Richtung Colima, Hauptstadt des gleichnamigen mexikanischen Bundesstaates. Sie hatten an einer Versammlung teilgenommen, bei der es um die Nichteinhaltung von Verträgen durch Ternium gegangen war.
Der Konzern, der in seiner Mine bei Aquila im Küstenhochland von Michoacán über eine Tochtergesellschaft 1,9 Millionen Tonnen Eisenerz pro Jahr fördert, was neben der Abholzung der Wälder auch zum Verlust von Wasserquellen führt, hatte nach einem Streik 2012 den Bewohnern von Aquila Lizenzgebühren zugesagt. Dies nahm das Kartell zum Anlass, Schutzgeld zu erpressen. Die Verbindung von organisierter Kriminalität und transnationalen Unternehmen, Drogenanbau und Landwirtschaft (zum Beispiel Avocado-Anbau) sind offensichtlich. Umso bedrohter sind die Schutzgebiete und die Existenz vor allem indigener Gemeinschaften.
Die Region ist seit langem von Drogenhandel und Gewalt geprägt. Das CJNG, das einst im Bundesstaat Jalisco gegründet wurde, der Heimat des Tequilas, kämpfte noch vor gut zehn Jahren gegen das sogenannte Tempelritter-Kartell um die Vorherrschaft in Michoacán – bis es die Oberhand gewann. Die Gegend sei „einer der gefährlichsten Orte, um sich für Land und Umwelt einzusetzen“, heißt es in einem Bericht der Fair Steel Coalition, die sich im Mai in Luxemburg mit der hiesigen „Initiative pour le droit de vigilance“ (IDV) traf, einem Zusammenschluss luxemburgischer Nichtregierungsorganisationen. Etwa 32 Umweltschützer seien in der Region, in der Ternium tätig ist, zwischen 2008 und 2023 verschwunden, weil sie sich gegen die Abholzung und den Bergbau eingesetzt hatten.
Im Visier der Sicarios
Das Auto von Ricardo Lagunes und Antonio Díaz wurde schließlich in der Nähe des Cerro de Ortega gefunden, die Reifen durchschossen. Von den beiden Männern fehlt bis heute jede Spur. Die Täter wurden laut Generalstaatsanwaltschaft mittlerweile ausfindig gemacht: Óscar Fernando Arreguín Girón, genannt „el Anzuelo“, der als Chef der CJNG-Sicarios, der Auftragskiller des Kartells, in der Gegend gilt, sowie Carlos Macías Ayar, „el Sky“.
Analy Nuño ist der Spur nachgegangen. Die freiberufliche mexikanische Investigativ-Journalistin gehört zu den Recherche-Teams der beiden Projekte „A dónde van los desaparecidos“ und „Quinto Elemento Lab“, die sich dem Schicksal der Verschwundenen respektive der Investigativ-Recherche widmen. Analy Nuños Berichte sind sowohl in mexikanischen Medien wie etwa La Jornada Jalisco als auch in internationalen Zeitungen wie The Guardian erschienen.
Wie sich herausstellte, waren Ricardo Lagunes und Antonio Díaz von mehreren Fahrzeugen angehalten worden. Das ist den Ermittlungsakten der Sonderstaatsanwaltschaft für die Untersuchung des Verschwindenlassens zu entnehmen. Sie beinhalten Video- und Telefonanalysen, die Namen der Beteiligten sowie eine Chronologie der Ereignisse. Lagunes und Díaz waren demnach kurz vor ihrem Verschwinden in einem Restaurant und suchten daraufhin einen Laden auf. Was danach mit ihnen geschah, ist noch nicht geklärt.
Die Angehörigen der beiden Menschenrechtler und ihre Unterstützer forderten eine Intensivierung der Suche nach den Verschwundenen, ebenso der UN-Ausschuss für das Verschwindenlassen von Personen und die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Wie „A dónde van los desaparecidos“ berichtet, war den beiden Männern bereits einen Monat zuvor während einer Gemeindeversammlung Gewalt angedroht worden, wenn sie sich nicht den Interessen des Bergbaukonzerns fügen sollten. Während Ternium ein ums andere Mal dementiert hat, am Verschwinden der beiden Männer beteiligt gewesen zu sein, bezeugte das Kartell-Mitglied Javier Punto Fuentes, dass das Unternehmen durchaus damit etwas zu tun hatte. Die zuständige Staatsanwaltschaft nahm seine Aussage jedoch nicht in die Ermittlungsakten auf. Dahinter vermutet Ana Lucía Lagunes Gasca, die Schwester eines der Vermissten, „eine Verzögerungstaktik“.
Das Unternehmen Ternium Argentina S.A., das zu der italienisch-argentinischen Techint-Gruppe gehört, ist einer der größten Stahlhersteller Lateinamerikas. Es hat seinen Hauptsitz am Boulevard royal in Luxemburg. Die luxemburgische IDV und die amerikanische NGO Global Rights Advocacy riefen Familienangehörige der beiden Männer und Journalisten aus mehreren Ländern zu einer Videokonferenz zusammen, um die Situation zu beleuchten und Ternium, aber auch die mexikanische und luxemburgische Regierung in Bewegung zu bringen. Ein Schreiben an den Ternium-Chef Paolo Rocca blieb jedoch unbeantwortet, ebenso die Bitte um ein Treffen mit den NGO-Vertretern. Auch der Finanzchef des Unternehmens wollte weder mit den Menschenrechtlern noch mit den Journalisten reden.
Zu einem weiteren Vermisstenfall kam es im April 2023, als sich Eustacio Alcalá Díaz mit seiner Gemeinde San Juan Huitzontla, etwa 20 Kilometer von Aquila entfernt, für die Aussetzung der dem transnationalen Unternehmen erteilten Abbaukonzessionen einsetzte. Er wurde wenige Tage nach seinem Verschwinden tot aufgefunden. Lagunes, Díaz Valencia und Alcalá Díaz gehören zu den 93 Menschenrechtlern und Umweltschützern, die zwischen dem 1. Dezember 2006 und dem 1. August 2023 in Mexiko verschwunden sind.
Picknick mit El Chapos Mutter
Die ungehinderte Veröffentlichung der Dokumente durch die Staatsanwaltschaft stelle eine der vielen Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dem Fall dar, der als beispielhaft für die Fehler in der mexikanischen Justiz und Verbrechensbekämpfung gelten könne, meint Thomas Antkowiak von der International Human Rights Clinic der Seattle University School of Law. „Es ist eine Ironie, die uns beunruhigt, aber die Unbeholfenheit überrascht uns nicht“, sagt der Rechtswissenschaftler. „Die Staatsanwaltschaft ist berüchtigt dafür, den Opfern den Zugang zu Akten und Informationen zu verwehren, unabhängige Experten abzulehnen und die Familien mit dem Vorwand der Geheimhaltung und Vertraulichkeit im Ungewissen zu lassen, während sich undichte Stellen und Missstände, die gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen, häufen.“ Der veröffentlichte Inhalt zeige auch, wie dürftig die Ermittlungsergebnisse sind. Auf Anfrage des Tageblatt im Mai antwortete Ternium, dass das Unternehmen „seine Solidarität mit den betroffenen Familien und der Gemeinde Aquila zum Ausdruck gebracht“ habe und „in ständigem Kontakt“ mit den zuständigen Behörden sei. „Wir verurteilen jede Art von Gewalt und weisen alle Spekulationen und Verleumdungen, die Ternium mit illegalen Aktivitäten in Verbindung bringen, kategorisch zurück.“
Insgesamt sind etwa 51 Prozent des mexikanischen Bodens in gesellschaftlichem Besitz, als sogenanntes Ejido oder als kommunales Land. Selbst wenn ein Unternehmen wie Ternium eine Genehmigung hat, muss es die jeweilige Gemeinde um eine Genehmigung fragen. Um die Kommunen unter Druck zu setzen, arbeiten die Konzerne häufig mit den Kartellen zusammen. Verschwindenlassen und Morde sind in Mexiko an der Tagesordnung. So sind einen Tag nach der Wahl von Claudia Sheinbaum zur ersten Präsidentin des Landes in dem Städtchen Cojita im Nordwesten von Michoacán an der Grenze zu Jalisco die Bürgermeisterin Yolanda Sánchez und ihr Leibwächter aus einem fahrenden Auto heraus erschossen worden. Mutmaßliche Drahtzieher: das CNJG. Sánchez soll sich gegen eine Unterwanderung der lokalen Polizei durch das Kartell gewehrt haben. Der Wahlkampf war allgemein von Gewalt überschattet. Mindestens 34 Kandidaten wurden seit September 2023 getötet.
Der scheidende Präsident Andrés Manuel López Obrador, auch AMLO genannt, hinterlässt seiner Nachfolgerin, die am 1. Oktober ihr Amt antritt, viele Probleme. Seine Strategie gegen die Kriminalität, „abrazos no balazos“ (Umarmungen statt Schüsse), ging völlig daneben: 170.000 Morde und 44.000 Verschwundene in sechs Jahren. Es stellte sich heraus, dass staatliche Sicherheitskräfte mit lokalen Banden kooperierten, um das Vordringen des CJNG aufzuhalten. Von einem „Koexistenzabkommen“ ist die Rede. Es erlaubt den Kartellen Drogenhandel und Schutzgelderpressung, solange die „sichtbare Gewalt“ reduziert wird. Vor allem mit dem Sinaloa-Kartell pflegte AMLO demnach gute Beziehungen. Er traf sich mit der Mutter von „El Chapo“ Guzmán zum Picknick und ordnete die Freilassung von dessen Sohn an. Die neue Präsidentin Claudia Sheinbaum, die am 1. Oktober ihr Amt antritt, sollte diese Gepflogenheiten möglichst unterlassen.
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