Bildung / Merscheid: Der „Liewenshaff“ ist ein Ort, wo Jugendliche zu sich selbst finden
„Liewenshaff“ ist nicht nur ein Name, sondern eine Prophezeiung. Erleben, erfahren und sich selbst finden, ist das Ziel der sozialpädagogischen Einrichtung im Norden des Landes. Dort stranden Jugendliche, die durch das System gefallen sind und nicht wissen, wie sie in der Arbeitswelt bestehen sollen. Angesichts der Erhöhung der Schulpflicht auf 18 Jahre kommt eine Erweiterung.
„Der Bedarf ist enorm“, bestätigt Jean Fetz (66). Ob Jugendliche mit 16 oder 18 Jahren die Schule verlassen, Probleme wie Lernstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten sind dann längst nicht gelöst. Das beobachtet der gelernte Erzieher im inzwischen aufgelösten „Centre d’intégration scolaire“, in dem er, als der „Liewenshaff“ ins Spiel kommt, bereits zehn Jahre lang arbeitet.
„Die Gründung war eine logische Konsequenz“, sagt Fetz über die Anfänge. Er ist die graue Eminenz auf dem Gelände – auch wenn er das so wahrscheinlich nicht gerne hört. Es geht nicht um ihn, es geht um die Jugendlichen. „Jeder hat ein Recht auf eine zweite Chance“, sind Sätze, die er sagt, ohne nachdenken zu müssen. Er lebt diesen Grundsatz in der Praxis.
20 Jugendliche kommen aktuell täglich in die sozialpädagogische Einrichtung, gehen täglich vier Stunden in den Schulunterricht des „Haffs“ und schnuppern danach in einem der fünf Ateliers die Luft der Arbeitswelt. Sie wählen zwischen Landwirtschaft, Garten, Küche, Raumpflege oder Metallverarbeitung. Um fünf Uhr gehen sie nach Hause. Sieben Jugendliche besuchen das Schulinternat. Die Warteliste ist lang, trotzdem gibt es für Notfälle immer einen Platz.
Viel Aufholbedarf
Wenn er über die Klientel spricht, spricht er von Jugendlichen, die nach dem Ende ihrer Schulpflicht mit 16 Jahren oft nicht richtig lesen und schreiben können, denen Kompetenzen wie Pünktlichkeit, Verantwortung oder soziales Miteinander fehlen und meistens auch ein stabiles familiäres Umfeld. Als Steven (22) vor zwei Jahren aufgenommen wird, bringt der damals 19-Jährige ein „Certificat de capacité professionnelle“ (CCP) mit. Er findet allerdings keinen Ausbildungsbetrieb. Er ist extrem schüchtern, Veränderungen machen ihm Probleme. Es fehlt an vielem, vor allem an Vertrauen.
Seine Familiengeschichte ist kompliziert, mehr will er nicht erzählen. „Ich konnte nicht mit Leuten sprechen, geschweige denn auf sie zugehen“, sagt Steven. Jetzt spricht er sogar mit der Presse. Er entscheidet sich damals dafür, im Bauernbetrieb und mit den Tieren, die auf dem Hof leben, zu arbeiten. Mittlerweile arbeitet er im Bereich „Raumpflege“ und hat Ziele für sich entwickelt. Bis Ende des Jahres will er einen Ausbildungsplatz finden. Als er in den „Liewenshaff“ kommt, hat er keine Motivation, zu arbeiten.
Die Erfahrung, wie die Jugendlichen in einer ihnen zugewandten Umgebung die Chance nutzen, sich zu entwickeln, beobachtet Conny Hendrickx (33) täglich. Die Bauerstochter ist passionierte Reiterin und ausgebildete Erzieherin. Sie arbeitet seit 2021 im „Liewenshaff“ und betreut die acht Pferde des Hofes, deren Fähigkeiten vor allem im Sozialverhalten viel bewirken. „Pferde sind die besten Lehrer, um gewisse Kompetenzen zu erlangen“, sagt sie. Beim Putzen, Füttern, Weidegang, Reiten oder Anschirren der Kutsche übernehmen die Jugendlichen Verantwortung und die Vierbeiner spiegeln ihr Verhalten.
Grenzerfahrungen
„Da stoßen sie schon an ihre Grenzen“, sagt Hendrickx. „Aber sie erfahren genau das, was wir oft mit ihnen erleben.“ Es ist ein Prozess, der viel Geduld abverlangt. Mal geht es zuerst einen Schritt zurück und dann wieder zwei Schritte vorwärts. „Langfristig zahlt es sich aus“, sagt die Pferde-Instruktorin. Die Jugendlichen entscheiden sich freiwillig für den Aufenthalt, was mindestens genauso wichtig ist wie eine weitere Überzeugung des Gründers.
„Jeder hat ein Recht auf Bildung“, sagt Fetz. Das beinhaltet nicht nur Fächer, wie sie in der Schule auf dem Lehrplan stehen, sondern auch Kultur. Damit hat der „Liewenshaff“ im Nebeneffekt eine Anbindung an die Ortschaft Merscheid mit knapp 300 Einwohnern erreicht und fristet kein „Inseldasein“ in der ländlichen Umgebung. Der inklusive Charakter ist gewollt. In jahrelanger Arbeit legen die Jugendlichen einen ein Hektar großen Park an, zu dem stählerne Freilicht-Kunstwerke genauso gehören wie ein Amphitheater.
Es muss im Leben von Jugendlichen ein Korrektiv geben zu dem, was sie bis dahin erlebt haben. Es darf nicht Sache der Erwachsenen sein, zu entscheiden, wer eine Chance bekommt und wer nicht.
Dorfbewohner wie die Jugendlichen nutzen es für Musikkonzerte und andere kulturelle Veranstaltungen, die der „Liewenshaff“ organisiert. Ganz nebenbei hat der Park dazu beigetragen, dass Merscheid den Preis der Dorferneuerung in den neunziger Jahren gewinnt. Der Erfolg gibt dem Konzept recht. Jetzt steht eine Erweiterung an. Wenn das neue Gebäude fertig ist, können 30 Jugendliche aufgenommen werden.
„Jonker staark maachen“, steht an einem der Ställe für die Pferde, mit denen die Einrichtung zur Lebenshilfe für Jugendliche seinerzeit den Anfang macht. Es geht um ihre positiven Seiten, die negativen sind bekannt, die der dreijährige Aufenthalt „herauskitzeln“ soll. Das ist der Anspruch. „Es muss im Leben von Jugendlichen ein Korrektiv geben zu dem, was sie bis dahin erlebt haben“, sagt Fetz zur philosophischen Basis des Ganzen. „Es darf nicht Sache der Erwachsenen sein, zu entscheiden, wer eine Chance bekommt und wer nicht.“ Daraus folgt: Jeder hat Rechte und Pflichten. Das erfahren die Jugendlichen in Merscheid und nehmen es im Idealfall ins Leben mit.
„Liewenshaff“
Die sozialpädagogische Einrichtung ist ein „Centre d’insertion socio-professionnelle“, hinter dem die Vereinigung „Päerd’s Atelier“ steht. Dort arbeiten 21 Menschen als Instruktoren in den verschiedenen Ateliers oder im sozialpädagogischen Bereich. Der „Liewenshaff“ hat einen Ableger im Marienthal. Die Einrichtung finanziert sich über eine Konvention mit dem Bildungsministerium, die den Betrieb und die Gehälter garantiert. Auf dem Hof gibt es eine Band, die aus fünf Jugendlichen besteht. Sie werden von einem ausgebildeten Musiker, der als Straßenmusiker auftritt, unterrichtet.
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