Esch/Alzette / Mieterin wird zum Spielball zwischen Eigentümer und Politik
Die Bestimmungen über gemeinschaftliches Wohnen im neuen „Plan d’aménagement général“ (PAG) der Stadt Esch haben in den vergangenen Monaten für viel Aufregung gesorgt. Rund 180 Beschwerden gingen bei der Gemeinde ein. Nachdem der Schöffenrat in Aussicht gestellt hat, den umstrittenen Absatz über den „Lien familial“ aus dem PAG zu streichen, haben die Proteste sich gelegt. Tatsächlich hat die Gemeinde zuletzt mehrmals bekundet, nicht gegen Menschen vorgehen zu wollen, die sich bewusst für gemeinschaftliches Wohnen entschieden haben. Die strengeren Regeln der Stadt Esch zielen eigentlich auf Eigentümer ab, denen eine vermeintliche „Wohngemeinschaft“ als Mittel zum Zweck dient, um mit möblierten Zimmern Geschäfte zu machen. Leidtragende dieser Situation sind fast immer die Mieter, wie der folgende Fall veranschaulicht.
Als sie 2018 ein sechsmonatiges Praktikum bei einem Unternehmen in der Fondsindustrie absolvierte, hat Irina Lempp sich in Luxemburg „verliebt“. „Die Stadt, die Mentalität und die Menschen haben mir sehr gut gefallen“, erzählt die junge Frau. Nachdem sie vergangenes Jahr ihr Studium an der Uni Mainz abgeschlossen hatte, beschloss die 32-jährige ausgebildete Rechtsanwaltsfachangestellte, sich mit ihrem Bachelordiplom der Wirtschaftswissenschaften in Luxemburg für einen Job zu bewerben. Im Juni 2019 stellte eines der vier großen Consulting- und Wirtschaftsprüfungsunternehmen („Big Four“) sie ein. Anfangs wohnte sie in einer Wohngemeinschaft in Luxemburg-Stadt, die sie über die Plattform furnished.lu gefunden hatte. In der Hauptstadt haben Immobilienagenturen einen ganzen Markt an möblierten Zimmern für junge Expats geschaffen. Dort hatte sie aber schlechte Erfahrungen mit Mitbewohnern gemacht, deshalb wollte sie sich ein eigenes Zimmer suchen. Mit ihrem Anfangsgehalt, das in etwa dem qualifizierten Mindestlohn entspricht, ist Irina Lempp eigentlich zufrieden, doch für eine geräumige Wohnung reicht das Geld nicht aus. Anfang dieses Jahres wurde sie über Facebook auf eine Anzeige aufmerksam. Die Miete für das 18 Quadratmeter kleine, möblierte Studio mit integrierter Küche und eigenem Bad in der rue Zénon Bernard in Esch/Alzette lag bei 800 Euro. Dank ihres unbefristeten Arbeitsvertrags bekam sie die Wohnung. Mitte Februar unterzeichnete sie den Mietvertrag. Sie kündigte ihr Zimmer in der Bonneweger Wohngemeinschaft und bereitete den Umzug vor.
Zwei Tage bevor sie umziehen wollte, rief der neue Vermieter sie an, weil es offenbar Probleme mit ihrer Anmeldung im „Registre principal“ gab. Um sich bei der Stadt Esch registrieren zu können, müsse sie eine „Attestation de sous-location“ unterzeichnen, die der Vermieter ihr zukommen ließ. Irina Lempp müsse die Gemeinde darüber informieren, dass sie mit der jungen Frau aus der Nachbarwohnung, mit der sie kaum Kontakt hat, in einer Wohngemeinschaft zusammenlebe, präzisierte der Vermieter. Dabei ging weder in der Anzeige noch im Mietvertrag explizit von einer Wohngemeinschaft die Rede. Zwar enthält der Mietvertrag eine Solidaritätsklausel und im Anhang Details über die „Affectation privative“, doch da Irina Lempp weder Expertin in Mietrecht ist, noch besonders gut Französisch kann, hat sie diese Hinweise wohl nicht als solche erkannt.
Aus eins mach zwei
Die Stadt Esch konnte dem Antrag zur Gründung einer Wohngemeinschaft nicht stattgeben. Am 10. April richtete Bürgermeister Georges Mischo (CSV) ein Schreiben an den Vermieter, in dem er ihm erklärte, dass sein Projekt nicht konform zum stadtplanerischen Reglement sei. Der Vermieter hatte die 40 Quadratmeter große Wohnung im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses in der rue Zénon Bernard 2018 erworben und umgebaut. Die Tür zwischen zwei Räumen hat er mit Kunststoff verschlossen und einen Schrank davorgestellt. Beide Zimmer hat er mit einer Kitchenette und einem Badezimmer versehen und so aus einer Wohnung zwei gemacht. Statt eines Apartments von 40 Quadratmetern kann er nun zwei Studios à 20 Quadratmeter zu jeweils 700 und 750 Euro (Kaltmiete) vermieten. Weil Studios in Luxemburg selten, aber gefragt sind, liegen die Quadratmeterpreise bei kleinen Mietwohnungen deutlich höher als bei größeren. Laut der Plattform athome.lu mussten Mieter in Luxemburg für ein Studio im September 2020 durchschnittlich 31,14 Euro/m2 zahlen. Für eine Wohnung mit einem Schlafzimmer waren es lediglich 23,05 Euro, für eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern 19,15 Euro.
Die Stadt Esch machte dem Eigentümer aber einen Strich durch die Rechnung. Nach ihrer Lesart handelt es sich bei dem Projekt um zwei separate Wohnungen, die nicht durch eine Tür miteinander verbunden sind. Dadurch sei die Einrichtung einer Wohngemeinschaft nicht möglich, erklärte der Escher Stadtarchitekt Luc Everling auf Nachfrage. Auf den Plänen, die der Vermieter eingereicht hat, sei nicht einmal mehr die mit Kunststoff verschlossene Tür zwischen den beiden Studios vermerkt. Die Gemeinde beruft sich dabei auf den „Plan d’aménagement particulier Quartiers existants“ (PAP QE) des allgemeinen Bebauungsplans PAG, in dem es im Artikel 31.2 heißt: „La sous-location, colocation ou cohabitation, ayant pour effet la création indirecte de lots et / ou de logements séparées, est prohibée. De même, le partage d’une unité ayant comme finalité la création de parties séparées non conformes aux règles de sécurité et de prévention incendie, ceci notamment en ce qui concerne le compartimentage et les voies de fuite, n’est pas autorisé.“ „Der Vermieter kann nicht sagen, dass er eine Wohngemeinschaft machen will und die Wohnung indirekt in zwei Studios aufteilen. Damit würde er sich ja am Gesetz vorbeidrücken“, präzisiert Everling.
WG oder getrennte Studios?
Anfang Mai ließ der Eigentümer seinen beiden Mieterinnen einen neuen, gemeinsamen Mietvertrag zukommen, in dem sie ihre Absicht, eine Wohngemeinschaft zu gründen, noch einmal unmissverständlich kundtun sollten. Auch bat der Eigentümer sie, eine gemeinsame Versicherung abzuschließen. Die Mieterinnen lehnten aber ab. Daraufhin hat der Vermieter geprüft, ob er die beiden Wohnungen als zwei separate Studios bei der Gemeinde deklarieren kann, wie aus einem uns vorliegenden Mailwechsel hervorgeht. Diese Variante konnte die Bautenpolizei der Stadt Esch aber auch nicht akzeptieren, weil im PAP QE festgehalten wurde, dass nur maximal 25 Prozent aller Wohneinheiten eines Mehrfamilienhauses eine Wohnfläche unter 45 Quadratmetern haben dürfen. Laut den eingereichten Plänen widerspreche die Aufteilung des Hauses in der rue Zénon Bernard dieser Regelung, heißt es in der Mail.
Der Vermieter, ein hoher Beamter, spricht von „Chaos“ in der Stadt Esch. Seine Frau ist in der Fondsindustrie tätig und betreibt seit Januar 2019 nebenberuflich eine Immobilienagentur, die laut Aussagen ihres Ehemanns wegen „eines fehlenden Verwaltungsdokuments“ noch nicht im Firmenregister eingetragen ist (Update vom 11. November: Die Eintragung ist kurz nach Redaktionsschluss des Artikels erfolgt). Diese Agentur hat auch das Studio in der rue Zénon Bernard an Irina Lempp vermittelt. Es ist nicht die einzige Wohnung, die der Eigentümer vermietet. Doch Probleme gebe es hauptsächlich in Esch, beklagt der Mann auf Nachfrage. Deshalb hat er im Juli beschlossen, eine Anwältin einzuschalten und außergerichtlichen Widerspruch gegen die Entscheidung des Bürgermeisters vom 10. April bei der Gemeinde einzureichen. In seinem Schreiben hatte Georges Mischo sich auf eine Baugenehmigung im Hinblick auf eine Änderung der Zweckbestimmung („Changement d’affectation“) der Wohnung bezogen und argumentiert, die Aufteilung der Wohnung in zwei getrennte Einheiten sei nicht konform mit den gesetzlichen Sicherheitsregeln und Brandschutzbestimmungen. Die Anwältin legt in ihrem Einspruch dar, dass der Vermieter gar keine Baugenehmigung benötige, weil er nur geringfügige Umbauarbeiten durchgeführt habe, die nicht genehmigungspflichtig seien. Zudem sei die Wohnung schon seit 2018 als Wohngemeinschaft vermietet worden, ohne dass es dabei zu Schwierigkeiten bei der Anmeldung eines Bewohners gekommen sei. Die Anwältin beruft sich auf die Antwort von Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) und Wohnungsbauminister Henri Kox („déi gréng“) auf eine parlamentarische Frage, in der die Minister betonen, dass weder PAG noch PAP die Art des Zusammenlebens in einem Wohngebäude bestimmen könnten. Die Anwältin führt ebenfalls ein Jurisprudenz-Urteil an, in dem das Verwaltungsgericht entschieden hatte, aus dem PAG der Gemeinde Monnerich gehe nicht hervor, dass die Einrichtung einer Wohngemeinschaft in einem Einfamilienhaus notwendigerweise eine genehmigungspflichtige Änderung der Zweckbestimmung voraussetze. Nicht zuletzt seien in dem Haus in der rue Zénon Bernard alle Sicherheitsbestimmungen und Brandschutzbestimmungen erfüllt, unterstreicht die Anwältin.
Bautenpolizei kommt vor Ort
Stadtarchitekt Luc Everling entgegnet aber, dass es im Rahmen einer Wohngemeinschaft untersagt sei, die Wohnungen mit separaten Eingängen und eigener Küche, Bad und Schlafzimmer aufzuteilen, weil damit indirekt zusätzliche Wohnungen geschaffen würden. „Wenn jemand die Verbindung zwischen zwei Zimmern trennt – sei es durch eine Mauer oder durch einen Schrank, den er vor die Tür stellt –, schafft er damit automatisch zwei separate Einheiten. Und das ist verboten“, sagt Everling. In einer Wohngemeinschaft müssten alle Mitbewohner Zugang zu sämtlichen Räumen haben und niemand habe das Recht, sein Zimmer abzuschließen, denn dadurch könnten Fluchtwege verschlossen werden, was gesetzlich verboten sei. Die Stadt Esch hat nun beschlossen, am 11. November die Bautenpolizei in das Haus zu schicken, damit sie sich vor Ort ein Bild der Lage machen kann. Ob der Bürgermeister seine Entscheidung daraufhin revidieren wird, ist jedoch fraglich.
Leidtragende ist die Mieterin Irina Lempp. Sie ist zum Spielball zwischen Eigentümer und Politik geworden. Die Stadt Esch verweist darauf, dass die Wohnungsbesitzer in der Verantwortung seien, die Situation ihrer Mieter zu klären. In einem Interview mit dem Tageblatt hatten die Verantwortlichen der Gemeinde Mitte Oktober angekündigt, gegen Eigentümer vorzugehen, die daran schuld seien, dass Menschen auf dem Warteregister landen. Die Eigentümer beklagen ihrerseits, dass die Gemeinde ohne Vorwarnung die Regeln geändert habe, und bestreiten die Rechtmäßigkeit der neuen Bestimmungen.
Seit sieben Monaten wohnt Irina Lempp inzwischen in Esch/Alzette und verfügt noch immer nicht über eine Wohnsitzbescheinigung („Certificat de résidence“). Angemeldet ist sie zwar noch an ihrer alten WG-Adresse in der Hauptstadt, doch weil dort ihr Name nicht mehr am Briefkasten steht und die Bewohner der WG ständig wechseln, bekommt sie kaum noch Post. Eine Einladung zum „Large scale testing“ oder kostenlose Schutzmasken von der Regierung habe sie auch noch nicht erhalten und sie habe kein Anrecht auf blaue Müllsäcke, erzählt die Frau. Wegen ihrer ungewissen Lage hatte der Eigentümer Irina Lempp mehrmals vorgeschlagen, den Mietvertrag einvernehmlich aufzulösen. Weil sie ihr Studio in der rue Zénon Bernard aber nicht aufgeben wollte, hat sie im Juli entschieden, ihren Vermieter auf Mietminderung zu verklagen. In seinem Urteil hat das Friedensgericht Esch ihr vergangene Woche teilweise recht gegeben und die Miete ab Juli 2020 um die Hälfte gesenkt. Weil Irina Lempp aber seit Juli keine Miete mehr bezahlt und es versäumt hat, eine Versicherung für die Wohnung abzuschließen, hat die Richterin den Mietvertrag aufgelöst und entschieden, dass sie innerhalb von zwei Monaten ausziehen und dem Vermieter 1.600 Euro nachzahlen muss. Irina Lempp hat sich bereits auf die Suche nach einer neuen Wohnung begeben, doch wegen der unsicheren Lage infolge der Corona-Pandemie dürfte dieses Unterfangen nicht so einfach werden. Sie hofft, dass sie in zwei Monaten nicht auf der Straße sitzen wird. Gegen das Urteil des Friedensgerichts will sie in Berufung gehen.
- Esch2022: Das Vertrauen in die Europäische Kulturhauptstadt schwindet weiter - 27. Dezember 2020.
- Im Escher Krankenhaus herrscht auf allen Ebenen Unruhe - 25. Dezember 2020.
- Corona kostet Luxemburger Staat bislang 4,4 Milliarden Euro - 16. Dezember 2020.
In einer WG haben alle Bewohner Privatsphäre. Zugang zu allen Räumen?! Herr Everling hat anscheinend noch nie verstanden was eigentlich eine WG ist. Armselige Dorfmentalität… mit solcher Politik wird Esch nie eine Weltstadt!
Seit der Machtübernahme der CSV scheint in Esch so manches schief zu laufen.