Neuerscheinung / Moment mal, das kenn’ ich doch! – Zu Selene Marianis Debüt „Ellis“
Mit „Ellis“ legt die Autorin Selene Mariani einen Romanerstling vor, der sehr stark an das Werk eines anderen Schriftstellers erinnert. Da beide Kreatives bzw. Literarisches Schreiben in Hildesheim studiert haben, könnte das die Debatte um die Schreibschulen in Deutschland wieder neu entfachen.
Eine merkwürdige Situation: Man schlägt ein neues Buch auf (in diesem Fall das Romandebüt einer jungen Autorin) und fängt an zu lesen. Dann, schon nach den ersten Seiten, sagt man sich: Das kann nicht wahr sein. Man blättert zurück, liest den Anfang noch einmal, nur um am Ende zu der gleichen Schlussfolgerung zu gelangen wie beim ersten Durchgang: Dieser Stil ist einem vertraut, und wie! Der Text, den man vor Augen hat, könnte aus der Feder eines anderen Autors stammen, eines Schriftstellers, den man gut kennt. Mit dessen Werk man sich lange und intensiv beschäftigt hat, zuletzt in seiner Abschlussarbeit. Natürlich geht man davon aus, dass hier auch keine bewusste Nachahmung stattgefunden hat – trotzdem macht es einen stutzig. Als Rezensent fragt man sich: Was jetzt? Und auch: Wie ist das überhaupt möglich?
Vorab: Dieser Artikel zielt nicht darauf ab, die zweite Frage zu beantworten. Das kann er gar nicht. Und doch wird eben dieser Punkt im Folgenden unweigerlich eine Rolle spielen, denn bei dem genannten Debüt handelt es sich um „Ellis“ von Selene Mariani, ihres Zeichens Absolventin der Schreibschule Hildesheim. Der zweite Autor heißt Fabian Hischmann, Verfasser von mittlerweile drei Büchern und – da haben wir es – ebenfalls ehemaliger Student des Hildesheimer sowie des Leipziger Literaturinstituts. Wie wir später noch sehen werden, sind die stilistischen Ähnlichkeiten und die thematischen Berührungspunkte zwischen Mariani und Hischmann so augenfällig, dass sie nicht einfach so zu übergehen sind – genauso wenig die Tatsache, dass die beiden Literaten die gleiche Creative-Writing-Ausbildung genossen haben. Ein gefundenes Fressen also für all jene, die Vorbehalte gegenüber Schreibschulen haben, weil sie denken, hier würde gelehrt werden, wie man Literatur nach Rezept verfertigt.
Die Debatte hat einige Jahre auf dem Buckel
Wo kann man im deutschsprachigen Raum Creative Writing studieren?
Die Universität Hildesheim bietet den Bachelor-Studiengang Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus (früher: Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus) sowie den Masterstudiengang Literarisches Schreiben und Lektorieren an. Daneben gibt es auch noch den Bachelor-Studiengang Kulturwissenschaften und künstlerische Praxis. Die Universität Leipzig bietet den Bachelor- und Master-Studiengang Literarisches Schreiben an. An der Universität für angewandte Kunst Wien kann man im Bachelor und im Master Sprachkunst studieren. Die Hochschule der Künste Bern ist mit dem Bachelor-Studiengang Literarisches Schreiben und dem Masterstudiengang Contemporary Arts Practice ähnlich gut aufgestellt wie die anderen genannten Universitäten.
Literaturkritiker und Kulturjournalisten widmen sich diesem strittigen Thema immer wieder, denn allein die Existenz solcher Institutionen sorgt für Irritationen in einem Betrieb, der noch immer von einem Genie-Mythos zehrt, wie er im Sturm und Drang erstmals evoziert wurde. Literarisches Schreiben als erlernbares Handwerk? An diesem Gedanken stoßen sich nach wie vor viele Menschen. Als um die Jahrtausendwende die ersten Creative-Writing-Studiengänge in Deutschland gegründet wurden, war der hämische Begriff „Institutsprosa“ rasch gefunden. Die Diskussion um ihren Stellenwert ist bis heute nicht abgerissen – das wird besonders deutlich, wenn Kritiker einen derart ausgebildeten Autor ins Visier nehmen.
So geriet Fabian Hischmann mit seinem eigenen Debüt „Am Ende schmeißen wir mit Gold“ 2014 selbst ins Fadenkreuz, als er für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde und daraufhin ein Kritiker meinte, der Roman zeige, dass der bildungsbürgerliche Nachwuchs, der Kreatives Schreiben studiere, zwar schreiben könne, jedoch wegen seiner Erfahrungsarmut nichts zu sagen habe. In eine ähnliche Richtung zielend gab es Stimmen, die Hischmann wegen des unterkomplexen „Mittelstufen-Lektüre“-Charakters seines Coming-of-Age-Romans angriffen. Nach dieser Kontroverse veröffentlichte der 1983 geborene Autor, der aus Donaueschingen (Baden-Württemberg) stammt, noch „Das Umgehen der Orte“ (2017) und „Alle wollen was erleben“ (2019).
Sind diese Autoren Zwillinge im Geiste?
Nun legt die Newcomerin Selene Mariani einen Roman vor, der sich so nahtlos in das Adoleszenzroman-Tryptichon von Hischmann einordnen könnte, dass man kaum an Zufall glauben mag. Frappierend sind vor allem die stilistischen Entsprechungen, die die Werke der zwei Autoren wie mit einem unsichtbaren Band verknüpfen. Hier zunächst der Einstieg von „Ellis“: „Ich sitze auf einer nackten Matratze. Vor mir steht der Fernseher, es läuft ’Aristocats’. Um mich herum gepackte Kisten und der Duft von frischer Farbe. Ich weiß nicht, dass mein Leben morgen geteilt wird und ich die erste Hälfte wegwerfen muss.“ Das Ende des ersten Abschnitts aus Hischmanns zweitem Roman „Das Umgehen der Orte“ lautet wiederum: „Wir schlecken Paprikapulver von Kartoffelchips. Wir gurgeln mit Limonade. Wir hissen einen Kissenbezug. Wir nennen uns Bande. Wir ahnen noch nichts.“
In „Ellis“ steht: „Wir bleiben am Fluss stehen, schauen auf vorbeischwimmende Blätter. ’Kalt für April, oder?’, sagt Grace. Sie steht vor mir, und jetzt tauchen ihre Hände auf ihren Schultern auf, als würde sie umarmt. ’Wie Winter’, erwidere ich.“ In „Das Umgehen der Orte“ schreibt Hischmann über das Treffen zweier Freundinnen: „Am Ende des Tages hat der Himmel rote Tupfen. Wenn er so ist, sagt Lisas Mutter immer: ’Gott schämt sich. Recht hat er.’ Auch die Mädchen sind rot im Gesicht vom Bier. Lisa hat Anne gefragt, ob Anne sie fett findet, und Anne meinte bloß: ’Fett ist das falsche Wort. Du bist halt mehr als andere.’“
Jugendlicher Trübsinn und Erste-Welt-Probleme
Beide Autoren verbindet die Vorliebe für einfache Satzstrukturen und Schlichtheit im Ausdruck. Das Erzählte wird bis auf das Elementare eingedampft, selektiert werden konkrete Wahrnehmungen, herausstechende Einzelheiten, scheinbar zufällige Details, die leitmotivisch für das stehen, worauf die Erzählungen abheben. Bei Mariani ist das der Kummer der jungen Protagonistin Ellis, die – von einer deutschen Mutter und einem italienischen Vater abstammend – in ihrer Schulzeit gemobbt wurde und jetzt ein einsames Leben führt. Sie trifft eines Tages auf ihre alte Schulkameradin und frühere beste Freundin Grace, worauf sich beide Frauen wieder anzunähern beginnen. Erzählt wird aber vor allem die Vergangenheit von Ellis. In kurzen Episoden beschreibt Mariani, wie Ellis von ihren Mitschülern drangsaliert wird, sie wider Erwarten eine Freundschaft zu „der Neuen“ Grace aufbaut und das Duo schließlich Urlaub bei Ellis’ Großeltern in Italien macht.
Hischmann wiederum meißelt mit seinen Romanen das Profil einer Generation von Zwanzig- bis Dreißigjährigen heraus, die partout nicht erwachsen werden können oder möchten. Ganz oben auf der Liste der Sujets, die er verhandelt, steht pubertär anmutender Weltschmerz; viel andere Coming-of-Age-Motive arbeitet er sorgsam mit ein. Die Werke von Mariani und Hischmann fallen ohne Ausnahme in die beliebte Themensparte „Die Leiden junger Menschen aus der Mittelschicht“. Die Übereinstimmungen zwischen den Autoren betreffen auch die Struktur der Romane – beide reihen gerne vereinzelte Szenen aneinander und sprengen mit Zeitsprüngen die lineare Handlungsfolge auf –, die Dynamik der Dialoge, der lapidare Redestil der Figuren sowie das sorgsame und pointierte Einstreuen von Metaphern, Vergleichen sowie umgangssprachlichen Ausdrücken.
Jedes Wort mit chirurgischer Präzision gewählt
Mariani wie Hischmann bauen kleine absurde Momente in ihre Erzählungen ein und schaffen eine subtile Ironie, indem sie Aussagen und Gedanken der unterschiedlichen Figuren immer wieder miteinander kollidieren oder aber einander wie ein Echo wiederaufnehmen lassen. Was „Ellis“ und Romane wie „Das Umgehen der Orte“ zu Prosa-Geschwistern werden lässt, ist, dass sie auf die genau gleiche Weise glattgefeilt wurden; die Werke beider Autoren wirken gepflegt wie der Gemüsegarten hinter einem adretten Vorstadthaus. Alles, was nicht unbedingt da zu sein hat, fliegt raus: schmückende Beiwörter, Nebensätze, Paraphrasen und feststehende Wendungen. Der Rest wird so lange zurechtgestutzt, bis nichts mehr weg kann und nur so viel gesagt wurde wie unbedingt nötig.
Mariani schreibt: „Früher war jeder Blick entlarvend, jetzt nicht mehr, jetzt bleiben sie auf der Oberfläche kleben. Ich weiß jetzt, was meine Stärke ist: mich anpassen.“ Oder: „’Werden wir alt?’, fragt Grace und wischt sich Tomatensoße vom Mund. ’Und wenn’, sage ich. ’Es war schön in Italien’, sagt Grace. Danach schweigen wir ein paar Monate.“ Eine derart kondensierte Sprache findet man auch bei Hischmann vor. In „Am Ende schmeißen wir mit Gold“ liest man: „Gründlich reibe ich meinen Mund mit der Serviette ab. Hannah sieht mich traurig an. ’Hast du denn jemanden zu Hause?’ Ich denke an Maria und Jan, die Möglichkeit eines Dreiecks. ’Freunde.’“. In „Alle wollen was erleben“ heißt es: „Wir laufen über den weißen Acker, hinterlassen Spuren. Der Himmel ist ein endloses Grau. Ich öffne den Mund, um ein paar Schneeflocken hineinfliegen zu lassen. Bastian macht es mir nach. Und kurz scheint alles möglich.“
Ähnlich prägnant steht auch noch einmal in „Das Umgehen der Orte“: „Als sie sich wieder gefangen haben. Will Lisa wissen, wofür die Stäbchen gut sind. Anne reicht ihr eins und stellt sich vor sie hin. Sie sagt: ’En garde!’ Und sticht Lisa mitten ins Herz.“ Das Motiv der unerwiderten Liebe einer jungen Frau zu ihrer besten Freundin kommt zudem bei beiden Autoren vor. Dabei ähneln sich sogar kleinste Details. In „Ellis“ trägt Grace einen „Vanilleduft“. In „Das Umgehen der Orte“ spricht Hischmann von Annes „Vanilledeo“.
Ein Bestseller auf Knopfdruck – als ob
Vielleicht mögen nun einige denken, dass Creative-Writing-Studenten alle gleich schreiben würden, weil man es ihnen ja so beigebracht hätte. Aber das ist natürlich nicht wahr. Von der speziellen Lakonie, die die Texte von Hischmann und Mariani durchzieht, unterscheidet sich zum Beispiel der Stil der Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die wie Hischmann in Leipzig studierte, und gleiches gilt für die Luxemburger Autorin und Hildesheim-Absolventin Nora Wagener. Die Menschen, die an einem Literaturinstitut Kreatives Schreiben studieren, bekommen auch nicht „das eine Rezept“ vorgelegt, nach dem sie dann den nächsten Bestseller zusammenpanschen können (was man sich von dem jeweiligen Studium zu erwarten hat, ist auf der offiziellen Website nachzulesen). Die Universität Hildesheim unterstreicht, dass es bei dem von ihnen angebotenen Studiengang „Literarisches Schreiben und Kulturjournalismus“ darauf ankommt, „eigene Ideen mit einzubringen und einen eigenen Schreibstil zu entwickeln“.
Trotzdem sind die Überlappungen zwischen Mariani und Hischmann so zahlreich, dass sie zumindest die Leser, die beide Autoren kennen, verblüffen dürften. Unter Umständen könnten sie sogar die Diskussion um die Schreibschulen in Deutschland wieder neu auflodern lassen. Das wäre letzten Endes schade für die Debütantin Mariani, die – das muss man hinzufügen – mit „Ellis“ keinen schlechten Text verfasst hat. Doch bleibt die Frage bestehen: Wie ist es möglich, dass ihr Werk fast die gleiche Handschrift wie die eines anderen Autors trägt?
- „und zerbröselt in vierzig stückchen illusion“: Tom Webers Lyrikband „fluides herz“ erzählt von Zerfall und Neubeginn - 19. Dezember 2022.
- Wir müssen die Lyrik befreien: Warum die Dichtung trotz ihrer Präsenz in den Medien ein Image-Problem hat – und wie sich das ändern kann - 27. November 2022.
- Mehr Akzeptanz fürs Kinderwunschlosglück: „Nichtmuttersein“ von Nadine Pungs - 4. September 2022.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos