Gesellschaft / Monnerich: Revolution gegen den Einheitsbrei
In vielen Dörfern in Luxemburg gibt es kein Lebensmittelgeschäft. Monnerich hat gleich zwei, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die „Epicerie am Duerf“ und die „Epicerie du Fin Gourmand“. Obwohl beide völlig andere Angebote haben, eint sie eines: Es ist der Wunsch, den anonymisierten Standards großer Zentren etwas entgegenzusetzen und dem Einkauf eine andere Note zu geben.
In der „Epicerie am Duerf“ riecht es lecker nach frischem Brot. Der Laden sieht so ganz anders aus als normalerweise die Läden, die portugiesische Migranten in Luxemburg betreiben. Dort liegen Spezialitäten aus der Heimat hinter Glas geschützt an der Theke aus, es gibt Kaffee aus Portugal oder Stockfisch für das Nationalgericht „Bacalhau“.
Im Geschäft von Vera Gonçalves-Silva (40) gibt es das nicht. Zu ihr kommen Luxemburger, um ihren Alltagsbedarf abzudecken. Die Auswahl reicht von Kaffee und Honig über Zigaretten, Konservengerichten und frischem Fleisch bis hin zu Schwämmchen zum Abwasch. In allererster Linie nutzen die Monnericher das Angebot zur Nahversorgung, die andernorts vielfach fehlt.
Die Einwohner der Nachbargemeinde Reckingen haben das Geschäft genauso entdeckt wie die Foetzer, die trotz Einkaufszentrum und trotz großer Discounter in der Gewerbezone vor ihrer Haustür lieber nach Monnerich kommen. Gonçalves-Silva kennt die meisten ihrer Klienten und weiß um deren Lebensgeschichten. Ein Schwätzchen ist bei ihr so selbstverständlich wie der Einkauf selbst. 150 Kunden sind es nach eigenen Angaben im Durchschnitt am Tag. Im „Confinement“ erlebt der Laden einen regelrechten Boom.
„Ich liebe das, was ich tue“, sagt die zweifache Mutter und strahlt die Zuversicht eines Menschen aus, der mit dem, was er macht, angekommen ist. „Die Epicerie zu haben, ist ein Privileg“, sagt sie. Ein Zufall beschert ihr den Laden, der im Laufe der Jahre für viele im Dorf zum Treffpunkt wird. Das erste Mal sieht sie ihn als Putzfrau. Als die damalige Besitzerin das Geschäft auf- und abgeben will, ergreift sie die Chance.
„Bomis“ helfen
„Ich hatte in bisschen Angst davor, nicht akzeptiert zu werden, weil ich damals nur Französisch konnte“, sagt sie. „Genau das Gegenteil war der Fall.“ Als ihre Kinder noch Babys sind, schieben ältere Einwohnerinnen sie im Kinderwagen durchs Dorf. Die Mutter steht auch sonntags hinter der Theke, hört zu, verkauft und kassiert. Gonçalves nennt sie „ihre Bomis“ und lernt Luxemburgisch.
Die Gespräche fruchten. In den letzten 13 Jahren hat sie ihr Angebot ständig erweitert. Die Zeitungen und Magazine, die überwiegend in deutscher Sprache mittlerweile ein langes Regal füllen, kommen hinzu oder der Service für Kleider ihrer Kunden, den sie zuletzt aufgebaut hat. „Jetzt müssen sie nicht mehr weit bis zur Reinigung fahren“, sagt sie.
Während des „Confinement“ arbeitet sie teilweise täglich zwölf Stunden und mehr, um allem gerecht zu werden. Lange warten soll niemand draußen vor der Tür, und nach wie vor bleibt Zeit, jeden Kunden individuell zu bedienen. Selbstgenähte Masken mit ihrem eingestickten Namen, Bonbons oder Blumen liegen morgens als Dankeschön vor der Tür. „Das hat mich sehr berührt“, sagt sie.
Vor zwei Monaten hat sie mit der „Epicerie du Fin Gourmand“ Kollegen, andere sehen es als Konkurrenz, bekommen. Gonçalves-Silva sieht es nicht als solche. Die Angebote der beiden Läden sind zu unterschiedlich. Außerdem hat Konkurrenz für sie etwas Positives. „Es ist ein Ansporn, immer besser zu werden, und ich habe noch viele Ideen.“ Die Szeles, die seit Juli das Delikatessengeschäft schräg gegenüber betreiben, sehen es ähnlich.
Die Szeles verwirklichen einen Traum
Im Mai, während alles stillsteht, entscheiden Pauline (30) und Nicolas Szele (34), das lang ersehnte Projekt umzusetzen. Trotz aller Widrigkeiten: Banken, die solche Projekte, wenn überhaupt nur mit Bauschmerzen finanziell unterstützen, der Ungewissheit, wie es nach dem Lockdown weitergeht, aber in der Gewissheit, dass es für sie das Richtige ist.
Nur drei Monate später machen sie – mitten in der Ferienzeit – auf und sind überwältigt vom Erfolg. Der Charme von „la douce France“, den das Geschäft mit dem personalisierten Service verströmt, hat sich zwischen Monnerich, Düdelingen, Differdingen, Dippach oder Esch sogar bis Villerupt (F) herumgesprochen. Die Einrichtung wirkt so, als habe gerade erst jemand den Raum verlassen. Die aufgeräumte Perfektion anderer Geschäfte fehlt bewusst. Die Entdeckung der erlesenen, zumeist selbst hergestellten Nahrungsmittel, ist eine Reise im Wohnzimmerambiente.
Das ist gewollt. Nicolas Szele (34) ist in der Gastronomie aufgewachsen. Seine Eltern betreiben das gleichnamige Restaurant in Hollerich. Für den gelernten Koch ist die „Epicerie“ ein lang ersehnter Ausstieg: weg aus der Hektik der Stadt, weg aus der Mentalität des „schnell, schnell oder mehr und mehr“. „In der Stadt sind die Mieten hoch, Kunden werden im Minutentakt abgefertigt, weil der Umsatz stimmen muss“, sagt Nicolas. „Das ist hier ganz anders.“
Noch etwas stört im Laufe der Jahre als Koch gewaltig. „Mich hat das, was es zu Essen zu kaufen gibt, gelangweilt“, sagt er. „Ich hatte es satt, nie wirklichen Geschmack zu spüren.“ Dem setzen er und seine Frau in der „Epicerie“ pure Hingabe an Genuss entgegen. Das zum Verkauf stehende Salz hat er selbst mit Gewürzen verfeinert, das Olivenöl kommt aus Südfrankreich, wo er und seine Frau mit ernten, die Tagesmenüs zum Mitnehmen bereitet er nach eigenen Rezepten zu.
30-35 Mittagessen kommen die Kunden täglich direkt bei ihnen im Laden abholen. Die Delikatessen auf den Tischen rundherum sind noch begehrter. „Viele kommen hierher, um sich eine Freude zu machen“, sagt Nicolas Szele. „Sie genießen unseren Service, kaufen Geschenke für andere oder bringen sich selbst etwas mit.“
„Moderner Zeitgeist mit traditionellen Werten“
Die „Epicerie“ ist nicht nur das Gegenmodell zum standardisierten Geschmackseinerlei und der anonymen Abfertigung in den großen „Surfaces“. Sie bedeutet ein bewusst anders gewählter Lebensstil, der offensichtlich einen Nerv trifft. „Wir wollten auf das Land, wir haben zwei Kinder“, sagt Nicolas. „Wir haben nach mehr Gelassenheit und Balance gesucht.“
Das Lebensmotto der Familie ist auf einer Wand verewigt. „Moderner Zeitgeist mit traditionellen Werten“, steht auf Luxemburgisch im hinteren Teil des Geschäfts. Bezogen auf Ernährung heißt das, zurück zu einfachen Gerichten mit guten Zutaten. In Bezug auf den Lebensstil hat Corona in Szeles Augen vieles in Gang gebracht. „Wir hatten alle mehr als zwei Monate Zeit zum Nachdenken“, sagt er.
Eine Hauptstadt, der die Grenzgänger fehlen. Leere Einkaufszentren und eine Gastronomie, die sich grundsätzlich umstellen muss, man könnte fast meinen, ein Wirtschaftsmodell steht in vielerlei Hinsicht infrage. In diesen Rahmen gehört die Überlegung, leben, um zu arbeiten oder arbeiten, um zu leben? Der Unterschied ist groß und offensichtlich vielen nach Corona bewusster denn je.
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Solche Läden sind halt menschlicher als ein seelenloses Einkaufszentrum. Schön dass es so etwas noch/wieder gibt.