Grenzgemeinden / Mont-Saint-Martin: „Wenn der Staat morgen entscheidet, nichts mehr zu geben, ist die Stadt tot“
Serge di Carli (64, Parti communiste français) ist seit 20 Jahren Bürgermeister der Gemeinde Mont-Saint-Martin. Bei Amtsantritt war die heute rund 10.000 Einwohner zählende Stadt eine der ärmsten der Region. Heute liegt sie auf dem vorletzten Platz. Schon damals ging jeder, der kann, nach Luxemburg arbeiten. Daran hat sich nicht viel geändert. Im Gegenteil, die Probleme haben sich verschärft.
Tageblatt: Die Gemeinde war 2023, nach der Erschießung eines jungen Pkw-Fahrers im Pariser Vorort Nanterre, tagelang in den Schlagzeilen. Es gab Krawalle und Anschläge auf öffentliche Gebäude hier. Hat sich die Lage inzwischen beruhigt?
Serge di Carli: Die Krawalle waren überall in Frankreich, aber hier wurde das einzige Rathaus angegriffen. Der Raum, in dem wir hier sitzen, ist komplett neu. Es gab außerdem Schäden an einer Vorschule, am Klubheim des Fußballvereins, an einer Werkstatt für autistische Kinder, an einer Grundschule. Allein der Sachschaden am Rathaus betrug eine Million Euro, insgesamt waren es drei Millionen. Mein Haus war ebenfalls nicht sicher und ich habe mich mit meiner Frau kurzzeitig nach Luxemburg evakuiert.
Wie erklären Sie sich die Ausschreitungen?
In manchen Gegenden, wir zählen dazu, haben Gemeinden eine Bevölkerung, die sich ausgeschlossen fühlt. Vergessen. Da reicht ein Funken, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Und hier an der Grenze zu Luxemburg sind die Unterschiede besonders sichtbar.
Inwiefern?
Etwas mehr als ein Drittel der Einwohner von Mont-Saint-Martin arbeiten in Luxemburg. Das Großherzogtum ist sozusagen der größte Arbeitgeber der Gemeinde. Jeder mit entsprechender Ausbildung, die der französische Staat bezahlt hat, sucht dort Arbeit. Ich bin von Beruf Lehrer und ich weiß, was auf beiden Seiten der Grenze in dem Beruf verdient wird. Das ist ein großer Unterschied. Hier bleiben die weniger gut Ausgebildeten und sozial Schwächsten, die Ärmsten.
Wie belegen Sie das?
Wir haben hier ein Durchschnittseinkommen von 10.000 Euro im Jahr, die luxemburgischen Einkommen mitgerechnet. Das bedeutet, dass viele Einwohner hier mit weniger als 1.000 Euro pro Monat auskommen müssen. Unser „Bureau social“ kostet alleine eine Million Euro im Jahr. Die „épicerie sociale“ bei uns war die erste in Grand Est, die vor rund 25 Jahren eröffnet wurde. Wir haben mit 1.800 Wohneinheiten den größten Block an Sozialwohnungen in der Region.
Wenn alle, die können, nach Luxemburg gehen, fehlen hier Arbeitskräfte, oder?
Ja klar. Die Krankenschwestern im Krankenhaus kommen aus dem Libanon, die Einheimischen arbeiten in den Krankenhäusern in Luxemburg. Ich habe vor kurzem die Ausbildungsstätte für „aides-soignantes“ und Krankenschwestern eingeweiht und in meiner Rede gesagt: Meinen Sie, diese jungen Leute bleiben nach einem Abschluss hier? Genauso geht es mit Lehrern, Ingenieuren, Handwerkern und so weiter. Wir leben hier zwischen enormem Reichtum jenseits der Grenze und Armut bei uns. Es fehlen Ärzte, Lehrer, Polizisten …
Wie steht es denn um die Gemeindekasse?
Wir haben bei 10.000 Einwohnern ein Budget von zwölf Millionen Euro. Das ist nicht viel. Petingen hat bei 18.000 Einwohnern ein Budget von 120 Millionen Euro. Das sind zwar mehr Einwohner, aber das Zehnfache an Mitteln. Wir haben am Ende des Jahres 300.000 Euro übrig. Das ist nichts. Trotzdem sind wir eine Gemeinde mit sehr vielen Angeboten.
Welche denn?
Acht Grundschulen, ein Krankenhaus, eine Polizeistation, ein Altenheim, die zweite Sporthalle in der Region Meurthe-et-Moselle ist hier, ein College und bald auch eine „Crèche“ …
Wie machen Sie das denn bei dem Gemeindebudget?
Das Krankenhaus ist staatliche Angelegenheit, das Seniorenheim ist in privater Hand, die neue „Crèche“ wird zu 80 Prozent aus der staatlichen Familienkasse finanziert. Unser Gemeinwesen ist auf staatliche Subventionen angewiesen. Wenn der Staat morgen entscheidet, nichts mehr zu geben, ist die Stadt tot.
Ich höre heraus, dass Sie für einen Steuerausgleich zwischen Luxemburg und Frankreich plädieren …
Ich sitze hier 500 Meter von der belgischen Grenze und 500 Meter von der luxemburgischen Seite entfernt. Mein belgischer Kollege in Aubange bekommt ein paar Millionen Euro pro Jahr aus Luxemburg. Das hilft. Warum gibt es einen Sonderweg mit Belgien und nicht mit Frankreich, obwohl das europäische Recht Benachteiligungen verbietet? Warum gibt es hier nicht ein Abkommen, wie es im Genfer Raum zwischen der Schweiz und Frankreich existiert?
Das hat schon Ihr Parteikollege Alain Casoni, der ehemalige Bürgermeister von Villerupt, bemängelt …
Ja, und die Idee nimmt allmählich parteiübergreifend Form an. Aber es braucht Zeit. Der Bürgermeister von Audin-le-Tiche wollte einen P&R-Parkplatz für die Grenzgänger anlegen. Luxemburg hat abgelehnt, sich an den Kosten zu beteiligen. Jetzt wird er nicht gebaut. Wir sind oft in der Situation eines Vasallen. Warum haben wir nicht so etwas wie die Schweiz mit Frankreich wegen der Grenzgänger?
Das wird schwer durchzusetzen sein …
Die Einstellung der luxemburgischen Regierung ist nicht länger tragbar. Luxemburg hat in der Legislaturperiode vor den Wahlen 2023 rund 24 Millionen Euro in die französischen Grenzregionen für Projekte überwiesen. Die französischen Grenzgänger tragen ihrerseits zwölf Milliarden Euro mit den von ihnen gezahlten Steuern zum luxemburgischen Staatshaushalt bei.
Wie sieht es denn mit den Häuserpreisen aus?
Wir erleben hier eine Explosion der Immobilienpreise. Wir sind teurer als Metz oder Nancy, was dazu führt, dass die einheimische Bevölkerung nichts Bezahlbares findet.
Der Grund?
Viele portugiesischstämmige Luxemburger verkaufen ihre Häuser in Luxemburg und kaufen hier etwas. Das Leben in Luxemburg ist teuer. Das treibt die Preise in die Höhe.
Sie haben keine leichte Situation hier und viele Probleme. Verlieren Sie nicht manchmal die Lust als Bürgermeister?
Nein. Ich bin in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und jetzt steuere ich eine Stadt, deren Reichtum die Menschen sind. Sie haben es verdient, dass man sich um sie kümmert. Und mit „steuern“ meine ich, den Menschen hier ein bisschen Glück zu bringen.
Grenzgemeinden-Serie
Wie erleben unsere Nachbarn die Nähe zu Luxemburg? Das Tageblatt hat in sechs Gemeinden der Nachbarländer nachgefragt. Bisher erschienen sind Arlon, Echternacherbrück und Villerupt. Jeweils Samstag können Sie das Interview mit einem Bürgermeister aus der Grenzregion lesen.
Aktion „Ville morte“
Nach den Ausschreitungen hat eine der beiden Versicherungsgruppen, die für Gemeinden zuständig sind, ohne Grund den Vertrag gekündigt. Er endet definitiv am 30. Juni. Auf eine erneute Ausschreibung hat sich kein Versicherer gemeldet. Das heißt, öffentliche Gebäude, kommunaler Fuhrpark, „épicerie sociale“, Schulen usw. in Mont-Saint-Martin sind ab dann nicht mehr versichert. Deswegen gibt es in der Gemeinde am 11. Juni eine Aktion namens „Ville morte“.
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