Ukraine / Nach 1.000 Kriegstagen setzt Moskau an, den Widerstandswillen der Menschen zu brechen
Russland will den ukrainischen Widerstand brechen: Der dritte Kriegswinter soll der schlimmste werden. Doch der Ideenreichtum der Ukrainer ist groß.
Ausgerechnet gegenüber dem Kiewer Friedhof „Bajkowy“, einer der größten und mit 180 Jahren ältesten Nekropolen der ukrainischen Hauptstadt, befindet sich die Landeszentrale der internationalen Firma „Ecoflow“, die sich seit 2017 auf umweltfreundliche tragbare Home-Energielösungen spezialisiert hat. Hier findet der von Strom-Blackouts gebeutelte Kiewer, was das Herz begehrt. Am gefragtesten sind die tragbaren Klein-Generatoren. Sie können mit Sonnenkollektoren kombiniert werden. „Hauptsache tragbar, damit sind wir unabhängiger“, erklärt Wolodymyr F., der mit seiner Frau schon lange von so einem „Ecoflow“-Generator träumt.
Der Kiewer Wissenschaftler hat sich die mindestens nötigen umgerechnet 300 Euro angespart, doch eine wirklich nützliche Lösung für einen Zweipersonenhaushalt bedingt das Fünffache. Unverrichteter Dinge zieht er wieder aus dem Laden an der Wasliwska-Straße ab. „Ich werde das Internet durchforsten, vielleicht finde ich einen gebrauchten Ecoflow-Generator“, meint er traurig.
Wolodymyr will sich für den 1.000. Kriegstag in der Ukraine wappnen. Dies ist bitter nötig, denn seit dem Fall der Temperaturen hat Russland erneut die Energie-Infrastruktur der Ukraine angegriffen. Alleine in einer einzigen Nacht schickte der Aggressor Ende August 200 Drohnen und Raketen auf Strom-Kraftwerke und Transformator-Stationen in der Ukraine. In den ersten beiden Kriegsjahren zerstörte die russische Armee so etwa 50 Prozent der Energie-Infrastruktur, vor allem Kraftwerke und Fernwärmestationen. Dies führte im ganzen Land zu Blackouts von mehreren Stunden pro Tag. Der gerade beginnende dritte Kriegswinter soll laut Experten allerdings der schlimmste werden. Bereits im Juni waren laut der UN-Menschenrechtsmission in Kiew 73 Prozent der ukrainischen Kraftwerke außer Betrieb.
Luftverteidigung entscheidet über Stromlieferung
„Das realistischste Szenario sieht eine Begrenzung der Elektrizitätslieferung auf 8-14 Stunden pro Tag vor“, sagt Gennadi Riabtsew vom Nationalen Institut für Strategische Studien in Kiew. Weniger optimistisch ist allerdings eine UN-Studie, die bereits Ende Sommer warnte, dass es im Winter 2024/25 in manchen Gegenden nur während vier Stunden Strom geben könnte; in andern wiederum soll die Energieversorgung bis zu 18 Stunden pro Tag sichergestellt werden können. Die Rede ist hier nicht von der Frontlinie im Donbass, wo es ohnehin keinen Strom, kein Gas und kein fließendes Wasser für die Zivilbevölkerung mehr gibt, sondern von Großstädten wie Kiew, Dnipro, Odessa oder Lwiw.
Laut Energiefachleuten hängt die Anzahl der möglichen Lieferstunden vor allem von der ukrainischen Luftverteidigung ab. „Lieferschwierigkeiten und Mangel sind unvermeidlich“, sagt Wolodymyr Kudritski, der ehemalige Verwaltungsratsvorsitzende des staatlichen Versorgers „Ukrenergo“, die Frage ist einzig, werden sie groß oder klein sein, denn dies hängt von der Dezentralisierung und vor allem der militärischen Verteidigung der Kraftwerke ab. Mit der lange von der EU angemahnten Dezentralisierung indes wurde erst diesen Sommer begonnen.
Wolodymyr F. und seine Frau sind wegen dieser Energieversorgungsprobleme bereits im ersten Kriegswinter aus der Kiewer Innenstadt in die kaum mehr benutzte Datscha am Kiewer Meer viel näher an der Grenze zu Belarus gezogen. „Wir wohnten in der 15. Etage eines Hochhauses im modernen Stadtteil Obolon, doch selbst bei einem kurzen Stromausfall funktionierte danach tagelang der Lift nicht mehr; auch die Heizung braucht natürlich Strom“, erklärt der noch rüstige Wissenschaftler um die sechzig. Nach der Abwehr des russischen Angriffs auf Kiew zog das Paar deshalb noch vor dem ersten Kriegswinter in ihr Ferienhaus. Am Anfang sei das Leben dort sehr spartanisch gewesen, erinnert sich Wolodymyr, der immer wieder in die Hauptstadt zu akademischen Treffen muss. „Wir mussten viel investieren, bestimmt ein paar Tausend Euro, Wärmedämmungen installieren und den alten Holzofen wieder auf Vordermann bringen“, erzählt er. Inzwischen hat sich Wolodymyr an das Leben auf dem Dorf gewöhnt. „Hauptsache, die Powerbanks sind aufgeladen und das Internet funktioniert“, lacht er zum Abschied.
US-Raketen verhindern russischen Vormarsch nicht
Dass Joe Bidens Ankündigung, Kiew dürfe zur Verteidigung ab sofort doch von den USA gelieferte, weitreichende Waffen zu Angriffen auf russisches Gebiet nutzen, seine Probleme mit Strom und Heizen lösen wird, glaubt der ältere Kiewer nicht. Der abtretende US-Präsident hat die monatelang von Kiew geforderte Erlaubnis erteilt, um den bedrängten ukrainischen Truppen im russischen Oblast Kursk und im Donbass zu helfen. Vor allem in Kursk hat Russland mithilfe von nordkoreanischen Soldaten einen Großangriff gestartet. Seit einem Einmarsch auf russisches Grenzgebiet Anfang August hält die ukrainische Armee in der westrussischen Oblast noch rund 600 Quadratkilometer. Im Donbass wiederum drohen die strategisch wichtigen Städte Torezk, Pokrowsk und das im Herbst 2022 wiedereroberte Kupjansk in die Hände der russischen Armee zu fallen.
Putin will vermutlich bis zu von Donald Trump erzwungenen sogenannten Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau noch möglichst viel ukrainisches Gebiet erobern – auch um eine in einem ersten Schritt zu erwartende Waffenstillstandslinie möglichst weit westlich in der Ostukraine festzulegen. Das ukrainische Heer hat mit Bidens Erlaubnis nun ein Zeitfenster von zwei Monaten bekommen, um die russischen Versorgungslinien im Innern Russlands zu stören und den Krieg nach Russland hinein zu tragen. Doch das fast tägliche Weiterkommen der russischen Truppen kann keine ATACMS-Rakete verhindern.
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