Interview mit Politologe / Nach Aserbaidschans Angriffen auf Armenien: „Alle wissen, dass der Krieg sehr nahe ist“
Mehr als 150 tote Armenier und mehr als 70 tote Aserbaidschaner: Die Bilanz der mehrtägigen aserbaidschanischen Angriffe auf Armenien in der vergangenen Woche ist brutal. Inzwischen gibt es eine Feuerpause. Doch wie geht es weiter? Der armenische Politologe Varuzhan Geghamyan von der Universität Eriwan gibt Antworten.
Tageblatt: Wie ist die Lage in Armenien? Hält die Feuerpause nach den Angriffen Aserbaidschans auf Ihr Land in der vergangenen Woche?
Varuzhan Geghamyan: Wir haben jetzt den dritten Tag in Folge ohne Kämpfe. Angesichts der Situation würde ich trotzdem von einer vorübergehenden Waffenpause reden.
Haben Sie kein Vertrauen in die Feuerpause?
Was vergangene Woche von vielen Seiten als „Aggression“ verharmlost wurde, war eine Phase eines ausgewachsenen Krieges. Aserbaidschan griff aus insgesamt sechs Stoßrichtungen drei Provinzen Armeniens an. Anders als zuvor wurde nicht in und um Bergkarabach gekämpft. Dieses Mal handelte es sich um einen Angriff auf armenisches Staatsgebiet in seinen international anerkannten Grenzen. Das streiten nicht einmal die Aserbaidschaner ab.
Wie stellt sich die Situation nach den Angriffen dar?
In mindestens zwei armenischen Provinzen hat Aserbaidschan armenisches Staatsgebiet besetzt. Die Vorstöße reichen bis zu zehn Kilometer in armenisches Staatsgebiet hinein. Aserbaidschan steht mit seinen Soldaten armenischen Angaben zufolge inzwischen auch nahe der wichtigsten Verbindungsstraße von der armenischen Hauptstadt Erewan aus in den Süden des Landes und damit in den Iran und nach Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs. Es gibt zurzeit keine Anzeichen dafür, dass es lange bei der Feuerpause bleiben wird.
Auch rhetorisch stehen die Zeichen nicht auf Deeskalation. Das gilt für Aserbaidschan, aber auch für seine Schutzmacht Türkei. Rechtsradikale türkische Politiker drohten am Wochenende, die Türkei könne Armenien in nur einem Tag auslöschen.
So etwas sagen nicht nur Rechtsradikale, die türkische Führung schlägt ganz ähnliche Töne an. Und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew hat öffentlich gesagt, dass es keinen Staat Armenien geben sollte, dass Aserbaidschan dorthin zurückkehren werde. Nach internationalen Normen kommt das einer Kriegserklärung gleich. Aber es ist ja nicht nur das, was sie sagen. Sie tun es ja auch. All diese Angriffe und Aktionen dienen Aserbaidschan und der Türkei dazu, ihrem Ziel näher zu kommen. Alle in Armenien wissen das.
Vergangene Woche hat Armenien die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, sozusagen die russische Version der NATO, um Hilfe gebeten. Statt militärischer Hilfe kam aber nur eine Expertenmission. Wer hat denn dafür gesorgt, dass es zur Feuerpause kam?
An erster Stelle tat die armenische Armee das. Sie war es, die den groß angelegten aserbaidschanischen Angriffen standhielt. Von sechs versuchten Durchbrüchen gelangen den Aserbaidschanern nur zwei. Danach war es die Russische Föderation, für die diese Eskalation zur Unzeit kam, die als erste versuchte, eine Feuerpause durchzusetzen. Und schließlich hat der Westen darauf eingewirkt. Es war eine kollektive Anstrengung, bei der aber alle Akteure ihre ganz eigenen Ziele verfolgen.
Armenien grenzt im Süden an den Iran. Genau jenen Teil Armeniens wollen Aserbaidschan und die Türkei abschneiden, um einen Landkorridor zwischen ihren Ländern herzustellen. Armenien würde so seine Grenze zum Iran verlieren. Was bedeutet das für die Region?
Die Atmosphäre ist äußerst angespannt, der geopolitische Einsatz sehr hoch. Die von Ihnen angesprochene Landbrücke ist eines der größten geopolitischen Projekte der Türkei seit mehr als hundert Jahren. Der Idee eines solchen türkischen Korridors, des sogenannten Zangezur-Korridors, begegnen wir erstmals in Diskussionen der Eliten des Ottomanischen Reiches am Ende des 19. Jahrhunderts. Es geht hier nicht bloß um ein Stück Land, diese Verbindung würde die Türkei zu einer regionalen Supermacht machen.
Das kann dem Iran nicht gefallen …
Nein, für den Iran ist das eine große Bedrohung. Teheran sagt klipp und klar, dass es eine Verschiebung der international anerkannten Grenzen in der Region nicht hinnehmen wird. Sowohl die Türkei als auch der Iran schicken inzwischen Soldaten an die Grenzen der armenischen Syunik-Provinz ganz im Süden des Landes. Das sieht aus wie die Vorbereitung zu einem großen Krieg, der jeden Augenblick ausbrechen kann. Raum für Diplomatie gibt es in diesen Punkten auf beiden Seiten keinen. Das ist ein anderer Aspekt dieser eher lokalen Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschan und Armenien: Der geopolitische Rahmen ist höchst explosiv.
Die EU kann hier nicht auf ihre Werte pochen, weil ihr die Energie gerade wichtiger ist – so weiß Aserbaidschan, dass es weitermachen kann
Aserbaidschan ist ein autoritär und mit harter Hand geführter Staat. Trotzdem hat die Europäische Union im Zuge des Ukraine-Krieges und in ihrem Bestreben, weniger abhängig von russischem Gas zu werden, einen neuen Gasliefervertrag mit Aserbaidschan unterschrieben, der die Lieferungen verdoppeln soll. Hat das den aserbaidschanischen Angriff auf Armenien erleichtert?
Ich glaube ja, aber das ist nicht alles. Seit dem Sechswochenkrieg vom Herbst 2020 gab es von der EU oder anderen westlichen Freunden Armeniens keine klare Verurteilung der aserbaidschanischen Aggressionen. Der Westen hat es mit Gleichmacherei versucht und Aggressor und Angegriffenen gleichgesetzt. Auch heute gibt es noch armenische Kriegsgefangene in Aserbaidschan, verurteilt wurde das nicht. Und jetzt eben der Gas-Deal. Die EU kann hier nicht auf ihre Werte pochen, weil ihr die Energie gerade wichtiger ist. All das freut Alijew. So weiß Aserbaidschan, dass es weitermachen kann – wenn nicht heute, dann morgen.
Wie lebt es sich in so einem Umfeld in Armenien?
Die Angst ist groß, vor allem vor der Türkei und Aserbaidschan. Das zeigen alle Erhebungen in der armenischen Bevölkerung. Die jüngsten Ereignisse werden dieses Gefühl verstärken, daran besteht kein Zweifel. Die genozidalen Taten der vergangenen Woche mit dem Schänden der Körper von armenischen Soldaten und Soldatinnen zeigen, worum es geht – die Auslöschung alles Armenischen. Wir sind eine kleine Nation von drei Millionen Einwohnern, nahezu jede armenische Familie hat jemanden an der Frontlinie stehen. Alle wissen: Der Krieg ist sehr nahe.
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Erst im Juli wurde die Absicht vereinbart, dass Aserbaidschan künftig noch mehr Gas an die EU liefern soll. Alijew war nur einen Tag vor dem 24. Februar in Moskau, um eine strategische Partnerschaft mit Wladimir Putin zu unterzeichnen. Einfach geil, die Politik.