/ Nachts im Berg: Das Elevate-Festival in Graz verbindet Musik mit politischem Diskurs
Was macht man als ehemalige Europäische Kulturhauptstadt, dessen Altstadt zum Unesco-Welterbe zählt, bloß mit dem weitläufigen Stollensystem, das sich unter dem großen Felsmassiv im Zentrum befindet? In Graz wird hier seit 15 Jahren getanzt und über Politik diskutiert.
Von Jeff Thoss
Zu einem Besuch in der zweitgrößten Stadt Österreichs gehört auf jeden Fall ein Spaziergang auf dem Grazer Schloßberg. Rund 100 Meter ragt er über die Altstadt mit ihren charakteristischen roten Ziegeldächern. Wer diese hoch oben vom Uhrturm – dem Wahrzeichen der Stadt – aus begutachtet, könnte über einen Aufzug im Berginneren dorthin gelangt sein. Auch ein langer Tunnel führt durch den Schloßberg, vom Ufer der Mur hinauf zum Karmeliterplatz.
Sehr viel mehr vom Innenleben des Felsens wird man bei einem gewöhnlichen Städtetrip aber wohl nicht sehen. Die Überreste alter Befestigungsanlagen, die Stollen, die während des Zweiten Weltkriegs von Zwangsarbeitern in den Stein geschlagen wurden, sowie der große, mittig gelegene Veranstaltungsraum, der im Jahr 2000 eröffnet wurde, bleiben für gewöhnliche Touristen unsichtbar. Sie bilden den Schauplatz des Elevate-Festivals, das seit 2005 jedes Jahr stattfindet – lange Zeit im Herbst, bevor man vor ein paar Jahren zu einem Frühjahrstermin gewechselt ist.
Nicht erst seit der Guardian Graz vor ein paar Jahren als „Vienna’s cooler little sister“ bezeichnet hat, präsentiert sich die steirische Landeshauptstadt als Kreativmetropole mit vielfältigem Kulturangebot. Dazu zählt neben dem Festival-Urgestein Steirischer Herbst – seit 1968 ein Garant für die in der Alpenrepublik mit viel Leidenschaft kultivierten Kunstskandale – auch das Elevate, das sich als Festival für Musik, Kunst und politischen Diskurs präsentiert.
Die Veranstalter fahren seit jeher zweigleisig: Tagsüber gibt es Vorträge, Diskussionen und Workshops mit Theoretikern und Aktivisten aus aller Welt. Nachts wartet ein breites Spektrum an vorwiegend elektronischer Musik. Fünf Tage kann man so nach dem Prinzip „Dance Tonight, Revolution Tomorrow!“ in der österreichischen Provinz verbringen.
Grazer Gegenkultur
Die Liste bedeutender kritischer Stimmen, die das Festival bereits beheimatet hat, ist lang. Julian Assange, Amy Goodman, Noam Chomsky oder Shoshana Zuboff, sie alle haben sich hier schon zu Themen von Digitalisierung bis Klimawandel positioniert, zumeist im Forum Stadtpark, dem Gründungsort der Grazer Gegenkultur.
Auch im musikalischen Programm gab es schon viele Highlights: Pioniere wie Cluster oder DAF, Legenden der 90er wie Robert Hood oder Photek und natürlich zahlreiche Vertreter avancierter zeitgenössischer elektronischer Musik konnte man unter dem Schloßberg bereits hören. Nicht vergessen sollte man auch die überaus lebendige österreichische Szene, deren Musiker wie Dorian Concept und Clara Moto zu den Dauergästen gehören.
Fahrstuhl zum Olymp
Letztlich ist das Line-up allerdings egal. Das Elevate gehört zu jenen Festivals, bei denen man bereits vor Ankündigung des ersten Acts getrost Karten kaufen kann. Ich würde auch hingehen, wenn es ein Metal-Festival wäre. Und vielleicht, ja vielleicht, würde ich sogar hingegen, wenn dort nur steirische Volksmusik gespielt würde.
Ein Besuch lohnt sich allein wegen der besonderen Lage und Stimmung unter Tage. Auf anderen Festivals läuft man durch den Matsch, um von einer Bühne zur anderen zu gelangen. In Graz muss man nicht einmal vor die Tür gehen. Man muss nicht einmal wirklich gehen: Man nimmt den Aufzug, der dem Festival seinen Namen gibt.
Dungeon, Tunnel, Dom
Auch wenn das Elevate inzwischen gewachsen ist und traditionelle Konzertsäle im Stadtzentrum bespielt, bilden die drei Orte innerhalb des Bergs immer noch den Kern der Festivalidentität. Ganz oben befindet sich mit der Uhrturmkasematte der älteste Raum. Die Organisatoren nennen ihn „Dungeon“ und nutzen ihn vorwiegend für Experimentelles.
Wer nicht in Denkerpose herumstehen, sondern tanzen möchte, nimmt besser den Aufzug hinunter und steigt in der Mitte des Bergs wieder aus. Über einen Tunnel gelangt man in den, nun ja, „Tunnel“, ein etwas breiterer Stollen, dem man sich als U-Bahnschacht mit Barbereich und Tanzfläche vorstellen kann. Hier gibt es vor allem DJ-Sets, tanzbare, wenn auch nicht unbedingt massenkompatible. Die Hauptacts treten schräg gegenüber im „Dom“ auf, der neuesten Spielstätte des Festivals, einem gewölbten Saal, der etwa 600 Leuten Platz bietet.
Fokus auf Elektroklänge
Zu den schönsten Dingen am Elevate-Festival gehört es, sich einfach zwischen den verschiedenen Orten hin- und hertreiben bzw. fahren zu lassen: Elektro Guzzi im Dom dabei zuschauen, wie sie in Powertrio-Besetzung (Gitarre, Bass, Schlagzeug) klassischen Techno spielen, um dann in den Tunnel hinüberzugehen und das Original perfekt gemischt auf Vinyl zu hören. Oder hochfahren zum Dungeon, wo einen Sampling-Orgien und Synthesizer-Improvisationen erwarten. Am Ende der Nacht kann man von dort aus auch gleich auf das Schloßberg-Plateau hochsteigen, um sich den Sonnenaufgang anzusehen.
Am besten in Erinnerung geblieben ist mir ein Konzert des japanischen Noise-Künstlers Merzbow in Begleitung des Schlagzeugers Balázs Pándi. Es fand in der immer leicht klaustrophobischen Atmosphäre des Tunnels statt, gegen 2.00 oder 3.00 Uhr morgens. Balázs Pándi habe ich mehr gesehen als gehört. Merzbow war zu laut. Eine gefühlte Dreiviertelstunde produzierte er mithilfe eines Arrangements aus Metallfedern, Effektgeräten und einem Mischpult Variationen über die Geräuschkulisse eines startenden Kampfjets, gemischt mit Rückkopplungslärm.
Tief in der Nacht in einem dunklen Stollen stehen, auf jeder Seite umgeben von dickem Dolomitgestein, inmitten von Schallwellen, durch die man praktisch hindurchwaten kann – wer hätte gewusst, was unter einer pittoresken Altstadt alles möglich ist.
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