Editorial / Nation-state, alone in the world – Warum Putins Krieg so vieles infrage stellt
Es sieht so aus, als wäre es dahin, unser Weltbild. Mehr als 30 Jahre lang, seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, konnte man als Mitteleuropäer im Großen und Ganzen annehmen, dass unsere Welt – zumindest politisch – von Jahr zu Jahr eigentlich nur noch besser, freier, liberaler wird.
Vergessen wir einmal Corona und schauen wir auf die Errungenschaften der vergangenen drei Jahrzehnte. Schlagbäume wurden abgebaut, Grenzen verschwanden, die europäische Gemeinschaft wuchs und gedieh, geografisch, politisch und wirtschaftlich. Konflikte wurden in Ratssitzungen in Brüssel oder Parlamentsdebatten in Straßburg ausgetragen. Kriege gab es nur irgendwo da draußen und zwischen Banden, Islamisten und Rebellen.
Die Theorie, die in der Politikwissenschaft die Friedenszeit und auch den Fall des Eisernen Vorhangs wie keine andere geprägt hat, ist die des neoliberalen Institutionalismus. Sie wurde von den amerikanischen Politikwissenschaftlern Robert Keohane und Joseph Nye in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ersonnen, und besagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass Staaten gegeneinander Krieg führen, wird umso kleiner, je größer ihre Interdependenz ist – also je enger sie kulturell, gesellschaftlich und vor allem wirtschaftlich miteinander verflochten sind. Sprich: Machen wir genug Geschäfte mit einem anderen Land, wären die ökonomischen Verluste durch einen Krieg für beide zu groß, als dass er sich lohnen würde. Aus diesem Grund bezieht Deutschland Gas aus Russland. Und aus diesem Grund kam der Angriff Putins auf die Ukraine für die Welt so überraschend.
Denn Russland verhält sich – zumindest aus politikwissenschaftlicher Sicht – wie ein Hegemon im Kalten Krieg. Auch das wurde von Theoretikern beschrieben. Nach den dunklen Zeiten des Weltkriegs brachten die Politikwissenschaftler Hans Morgenthau und Kenneth Waltz ihre Theorien des „politischen Realismus“ hervor. Das Welt- und Menschenbild darin war wesentlich negativer als das der Institutionalisten. Die „realistischen“ Theorien vereint die Prämisse, dass das internationale Staatensystem aus Einheiten besteht, die alleine und gottverlassen in einem anarchischen System ums Überleben kämpfen – „Nation-State, alone in the world“. Dabei ist es mehr oder weniger egal, ob ein Staat von einem Parlament oder einem irren Diktator geführt wird – allen Akteuren geht es nur um Macht. Und da Morgenthau und Waltz nicht sehen, dass es eine funktionierende übergeordnete Autorität in diesem Wettbewerb gibt, kommt es zu Konflikten, die zu Kriegen werden können. Nur eine Machtbalance zwischen mehreren starken Hegemonen hält die Welt überhaupt davon ab, in den Abgrund zu stürzen – die Balance of Power des Kalten Kriegs. Kenneth Waltz war sich sicher, dass die Zeit, in der es nur eine Hegemonialmacht gibt – die USA – nicht lange andauert.
Waltz soll auch gesagt haben: „Jedes Mal, wenn Frieden ausbricht, tauchen Leute auf und verkünden, dass der Realismus tot ist.“ Was passiert dann, wenn Krieg ausbricht? 30 Jahre lang dachten wir, dass wir und unsere liberalen Demokratien gewonnen haben, dass wir uns eine globale Gesellschaft geschaffen haben, die die barbarische Waffengewalt wie jetzt in der Ukraine durch Institutionen und gegenseitige Dependenzen immer weiter von uns wegrückt. Aber leider haben wir dabei vergessen, dass es immer noch diejenigen gibt, die entweder in einer anderen Welt leben – oder sich eine andere wünschen.
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Ja, die Analyse stimmt. Der Beitrag gibt aber leider nur die Diagnose wieder ohne einen Therapievorschlag zu machen. ich denke es ist an der Zeit, dass die Politik dem Volk ohne Umschweife erklärt, dass die Party vorbei ist und, dass dies nicht nur ein kurzer Betriebsausfall ist. Die Brötchen werden auf Jahrzehnte hin kleiner ausfallen, d.h. die sozialisierung des Luxus ist vorbei. Der jährliche Fernurlaub als aquis social genauso wie billige Industriewaren aus China. Das Leben in unseren Breiten wird wieder herausfordernder. Das Gute daran ist, dass auch die rechtspopulistische Schwurbelszene auf das objektive Nichts ihres Anliegens reduziert wird, ihre Lächerlichkeit angesichts russischer Demonstranten offensichtlich wird und die sie unterstützende ADR als 5. Kolonne Putins demaskiert wird.