Interview / Navid Kermani: „Die großen Probleme unserer Zeit lassen sich nicht national lösen“
Klimawandel, Kolonialismus und die Notwendigkeit von Europa … Ein Gespräch mit dem habilitierten Orientalisten Navid Kermani im Vorfeld der Premiere seines Theaterstücks „S wie Schädel“ im Kapuzinertheater und seiner Lesung in Luxemburg.
Tageblatt: Im Iran werden die Frauen unterdrückt, in Israel tobt seit über einem Jahr ein Krieg und in der Ukraine geht der russische Angriffskrieg ins dritte Jahr, mit verheerenden Auswirkungen. „Hier kommt keiner sauber raus“, halten Sie fest. Gibt es etwas Schönes in Ihrem Leben, Navid Kermani?
Navid Kermani: In meinem Leben gibt es sehr viel Schönes. Schon der Blick aus dem Fenster, der Kastanienbaum vor meinem Büro. In der Welt ist ja nicht alles einheitlich. Die Entwicklung in Syrien ist zumindest nicht frei von Hoffnung, auch in anderen Regionen und im Iran bin ich hoffnungsfroh, dass sich das in den nächsten Jahren in eine positive Richtung entwickelt, dass der anhaltende Druck der Menschen auch Folgen haben wird für die Politik. Aber klar, insgesamt ist die Lage mehr als bedrückend und nicht nur auf die Gegenwart und den Westen bezogen. Wenn etwa der Klimaschutz abgebaut, wieder auf fossile Energien gesetzt wird, dann haben die unmittelbaren Folgen ja nicht wir selbst. Das betrifft direkt und sofort diejenigen Länder des Südens, über die kaum berichtet wird, aber die jetzt schon auf brutalste Weise unter dem Klimawandel leiden.
Beim legendären Regisseur Roberto Ciulli am Theater in Mülheim an der Ruhr haben Sie kurz nach dem Abitur hospitiert. In einer Inszenierung am 16. und 17. Januar im Kapuzinertheater legen nun eben jener Ciulli und Eva Mattes Ihre Texte zu Grunde, um danach zu fragen, was die Welt im Angesicht der weltweit tobenden Kriege zusammenhält. Wie schaffen Sie es, angesichts Ihres Realismus noch Optimismus zu verbreiten?
Es ist gar nicht die Aufgabe der Inszenierung, Optimismus zu verbreiten. Ich selbst denke nicht in diesen Kategorien. Hoffnung ist für mich mehr, wie wenn man atmet. Klar, sonst könnte man ja gar nicht weitermachen. Es gab in der Welt immer wieder dunkle Phasen und zugleich war es so, dass wenn es auf einem Weltteil fürchterliche Exzesse gab, es in einem anderen Weltteil gegenläufige Entwicklungen gab. Ich mache davon nicht meine eigenen Energien abhängig. Die richten sich sowieso nach einem utopischen oder metaphysischen Moment. Ich reise nicht, weil ich denke, dass ich damit konkret etwas bewirken kann, sondern weil es einfach meine Aufgabe ist.
Was erwartet die Zuschauer:innen im Kapuzinertheater?
Ich habe die Uraufführung in Weimar gesehen. Ich war wirklich unbeteiligt, weil ich mich bei der Bearbeitung immer raushalte, denn ich glaube an die Freiheit des Theaters. Auch, wenn ich kein Theatermensch geworden bin, habe ich ja bei Roberto Ciuli angefangen als junger Mensch und bin auch davon geprägt worden. Die beiden haben sich zusammen mit dem Dramaturgen Stefan Otteni Textstücke aus meinen Romanen und Reportagen herausgesucht – Passagen, Textfetzen zusammengestellt und daraufhin ein Stück entwickelt, das die Zersplitterung unserer Wahrnehmung auf eindrucksvolle und einzigartige Weise einfängt. Hinzu kommt, dass die beiden so charismatische Persönlichkeiten sind, dass sie selbst schon das Leben verkörpern. Das macht die Aufführung so besonders, macht den Abend zu einem herausragenden Erlebnis.
Es gibt keine einzige Herausforderung unserer Zeit, die national zu lösen wäre, und das gilt für die Pandemien genauso wie für das Wirtschaftssystem, Lieferketten, KriegeExperte auf dem Gebiet der Orientalistik
Mit Guy Helminger veranstalten Sie den Literarischen Salon im Kölner Stadtgarten. Ihre Lesung in Luxemburg wird ebenfalls von ihm moderiert. Am 18. Januar lesen Sie aus Ihrem Buch „In die andere Richtung jetzt“. Es ist eine Reisereportage durch vom Kolonialismus und Klimawandel gebeutelte Regionen im Osten Afrikas. Im Oktober 2015 reisten Sie etwa den Geflüchteten auf deren Weg von Budapest in die Türkei entgegen. Wieso bereisen Sie immer wieder Routen in umgekehrter Richtung?
Bei Letzterem war es einfach mein Vorhaben, diese Route eben nicht mit den Flüchtlingen zu reisen, sondern ihnen entgegenzukommen und ihnen ins Gesicht zu blicken. Das war aber gar nicht das Vorhaben bei Ostafrika. Was stimmt, ist, dass ich mir eigentlich immer blinde Flecken suche, dass ich gern dort hinreise, von wo kaum berichtet wird, wo ich aber denke, dass das mit uns zu tun hat, wo Dinge passieren und wo es Zeugen braucht, die darauf aufmerksam machen … Der Anlass war sehr konkret wie bei der Flüchtlingsroute oder wie bei dem Osteuropa-Buch, das ja auch vor einer Zeit entstanden ist, als Osteuropa noch gar nicht im Fokus der Politik stand. Genau da bin ich in die Ukraine gereist. Bald darauf kam es dann zu dem großen Krieg.
Sie haben gesagt, dass Sie reisen, um in der Fremde etwas über Ihre eigene Welt zu lernen. Was haben Sie in Madagaskar über Ihre Welt gelernt?
Die Vereinten Nationen haben dort, im Süden Madagaskars, 2021 die erste kausal durch den Klimawandel bedingte Klimakatastrophe ausgerufen. Man sah die gleichen Bilder wie in Äthiopien in den 70er- und 80er-Jahren, die aufgeblähten Bäuche der Kinder, die ausgezehrten Mütter und all das – nur niemand berichtete darüber. Es gab keine Sondersendungen, keine Reportagen. Niemand reiste dorthin, man las einfach nur von diesen Dürremeldungen, schreckliche Zahlen, und das, obwohl diese Hungerkatastrophe ja viel direkter mit unserer Lebensweise verbunden ist als alle Hungerkatastrophen und Notlagen bisher. Denn Madagaskar selbst erzeugt so gut wie keine Emissionen, aber das Land, in dem ich lebe, Deutschland, gehört zu den Ländern, die am meisten Emissionen produzieren, und dieses Paradox erstaunte mich: Es schaut keiner mehr hin, wenn eine große Not herrscht, obwohl wir doch mit dieser Not verbunden sind. Ich hatte mich gefragt, warum werden wir immer provinzieller und unser Blick immer enger, obwohl wir viel direkter als früher mit dem Leben in fernen Regionen verbunden sind.
Sie stellen die Schuldfrage für das Elend in Afrika, die Armut, die Korruption, die Zerstörung der Umwelt und die Dürre. Ist es die Mentalität (auch ein rassistisches Klischee), sind es die einheimischen Eliten, die die Ausbeutung der einstigen Kolonialherren übernommen haben, ist es das Weltwirtschaftssystem oder am Ende doch der Kolonialismus? Sie stellen diese Fragen in Ihrem Buch, auch als eine Art Selbstbefragung. Wenn aber die Wirklichkeit kompliziert und widersprüchlich ist, wie Sie gesagt haben, hilft dann eine am Kolonialverhältnis festhaltende Analyse wirklich weiter?
Für mich ist der Kolonialismus nur eine von vielen Ursachen für die Situation und sie ist ja nicht überall hoffnungslos. Es gibt auch sehr dynamische Entwicklungen. Madagaskar ist eine unglaublich waldreiche, tropische Insel und mittlerweile sind 90 bis 95 Prozent des Landes gerodet. Es ist das Land mit der höchsten Rodung überhaupt. Wer ist dafür verantwortlich? Die meisten Rodungen sind nach der Unabhängigkeit geschehen, als das Land selbst für sich verantwortlich war. Also kann man sagen: Das waren die Menschen selbst, das waren die Eliten, es waren raffgierige Oligarchen, die einfach schnell Profit machen wollten. Das stimmt natürlich – es waren ja nicht die Franzosen. Zugleich ist das Denken, in der Natur eine Ware zu sehen und das natürliche Gleichgewicht mutwillig zu zerstören, dieses profitorientierte Denken, von den Kolonialisten eingeführt worden. Wer ist also Schuld? An diesem kleinen Beispiel sehen Sie schon, dass einfache Antworten oder Schuldzuweisungen nicht sehr weit führen.
Jeder Euro, den wir für Klimaschutz im globalen Süden ausgeben, kommt uns zehnmal und hundertmal mehr zugute als das Geld, das wir hier in bestimmte Subventionen steckenExperte auf dem Gebiet der Orientalistik
Auch die im politikwissenschaftlichen Diskurs gängige Frage danach, ob der Zivilisationsbruch auf dem afrikanischen Kontinent als ein „Vorbote“ für den europäischen Zivilisationsbruch gedeutet werden kann, stellen Sie in Ihrem Buch. Haben Sie mittlerweile Gewissheiten erlangt?
Das ist ja eine Frage, auch im öffentlichen Diskurs, die mit Hannah Arendts Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ aufgekommen ist, die auch in der Ideologie der Nazis letztlich koloniale Strategien auf dem europäischen Kontinent sah. Der Zivilisationsbruch, der in der Unterwerfung Afrikas geschehen ist, wie dort Menschen wie Tiere behandelt wurden bis hin zu den sogenannten „Menschenschauen“, wo sie ausgestellt wurden wie im Zoo. Was mich überrascht hat, war einfach, dass dies schon oft gesehen wurde, unter anderem bei der von mir häufig zitierten Philosophin und Mystikerin Simone Weil, die ja schon in den 1930er-Jahren vorausgesehen hat, dass das, was die Europäer tun, diese Barbarei sich gegen einen Teil der Völker in Europa und gegen die Juden wenden wird. Auch frühe antikoloniale Denker haben diesen Zusammenhang hergestellt. Ich habe von ihnen gelernt und war eben erstaunt, dass das nicht erst in der Retrospektive erkannt worden ist. Und das erscheint mir einfach sehr visionär, kühn und prophetisch.
Was können Europäer:innen konkret tun, um den Klimawandel nicht nur scheinheilig „mit Heizungspumpen und Hafermilch“, wie Sie schreiben, zu bekämpfen?
All die großen Probleme unserer Zeit lassen sich nur global angehen. Es gibt keine einzige Herausforderung unserer Zeit, die national zu lösen wäre, und das gilt für die Pandemien genauso wie für das Wirtschaftssystem, Lieferketten, Kriege. Denken Sie an den Ukraine-Krieg! Wie sehr uns das geschadet hat, dass wir zuvor die Länder des globalen Südens so nachrangig behandelt haben, dass diese ihren eigenen Staatenverbund, inklusive Russland, bilden. Dem geht ja ein langes Versagen westlicher Länder voraus, die diese Länder wie Vasallen behandelt haben. Den Preis bezahlen jetzt die Ukrainer und die Europäer, die nun um Gas und Ähnliches in Saudi-Arabien betteln müssen. Also all diese Probleme lassen sich nur global lösen und die einzelnen europäischen Länder – ich glaube, es gibt kaum ein Land, wo man das so gut weiß wie in Luxemburg – haben in diesem Wettbewerb, in diesem Ringen überhaupt keinen Einfluss, wenn sie sich nicht zusammenschließen als Europäische Union und europäisch agieren. Deutsche Außenpolitik ist obsolet – die kann nichts im Nahen Osten ausrichten. Wenn überhaupt, könnte Europa ein „Global Player“ sein.
Ist in Afrika investiertes Geld für EZ nicht ein Tropfen auf den heißen Stein?
Was die Klimapolitik betrifft, ist es auch irrsinnig zu meinen, diese Probleme könnten mit nationalen Klimazielen gelöst werden. Selbst wenn sich Deutschland mustergültig verhalten würde, hätte es auf das Weltklima absolut geringfügige Auswirkungen. Wir müssten viel stärker begreifen, dass die großen Schrauben, wo sich wirklich die Zukunft des Weltklimas entscheidet und damit die Zukunft künftiger Generationen, dass sich das nur behandeln lässt, wenn man es mit dem alten Begriff von Willy Brandt als „Weltinnenpolitik“ behandelt. Jeder Euro, den wir für Klimaschutz im globalen Süden ausgeben, kommt uns zehnmal und hundertmal mehr zugute als das Geld, das wir hier in bestimmte Subventionen stecken. Das heißt, das Geld, das wir etwa in der Sahara ausgeben, um große Solaranlagen zu bauen – jeder Euro, den wir global anlegen, kommt uns, weil das Klima ja keine Grenzen kennt, viel mehr zugute, als dass wir für unheimlich viel Geld letztlich geringfügige nationale Klimaschutzmaßnahmen finanzieren oder sie sozial absichern. Es ist ein Riesenproblem, dass wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten das europäische Projekt so sehr geschwächt und nachrangig behandelt haben. Denn nur als ein einiges Europa könnten wir Einfluss auf Entwicklungen in der Welt üben, statt ihnen hilflos ausgesetzt zu sein – wie aktuell etwa dem Reichtum einiger weniger Tech-Konzerne oder den Kriegen im Nahen Osten.
Was erhoffen Sie sich von den zeitnahen Veranstaltungen in Luxemburg: Ist es ein Paradox, in einem der reichsten Länder Europas über Armut und Schuld zu diskutieren?
Ich finde es gerade wichtig, dass man diese Diskussion hier im Zentrum Europas führt, gerade in einer sehr wohlhabenden Gesellschaft. Weniger um die Schuldfrage aufzuwerfen, als einfach um ein Bewusstsein zu schaffen, was in der Welt geschieht. Das wäre ja schon viel! Ein Fenster zu öffnen in die Welt … Und von den Gesprächen, dem Theaterstück und der Lesung erhoffe ich mir einfach aufmerksame, neugierige Zuschauer:innen, Leserinnen und Leser.
Navid Kermani in Luxemburg
„S wie Schädel?“ Szenische Reflektion einer ungreifbaren Welt auf Texte von Navid Kermani. Luxemburg-Premiere eines Projektes von Navid Kermani, Eva Mattes und Roberto Ciulli am 16. und 17. Januar um 20 Uhr im Kapuzinertheater. Reservierung und Informationen unter https://theatres.lu/fr/swieschaedel.
„In die andere Richtung jetzt: Eine Reise durch Ostafrika“. Lesung und Gespräch mit Navid Kermani. Moderation: Guy Helminger. Eine Veranstaltung des Institut Pierre Werner (IPW) und des Grand Théâtre, am 18. Januar um 18 Uhr im Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg. Reservierung und Informationen unter https://www.ipw.lu.
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