Orange Week / Neue Asbl.: Die Überlebenden von häuslicher und sexualisierter Gewalt ergreifen das Wort
Sie haben psychische, physische oder auch sexuelle Gewalt erlebt – oft jahrelang. Heute wollen sie keine Opfer mehr sein, sondern sehen sich als Überlebende: Die Frauen und Männer der Asbl. „La voix des survivant(e)s – Stëmm vun den Iwwerliewenden“ setzen sich dafür ein, dass mit den gesellschaftlichen Tabuthemen der häuslichen Gewalt und des sexuellen Missbrauchs gebrochen wird.
„Es darf nicht mehr alles unter den Teppich gekehrt werden“, sagt Ana Pinto im Gespräch mit dem Tageblatt. Elf Jahre lang hat sie die Hölle durchlebt. 2011 ist sie mit ihrem damals dreijährigen Sohn geflüchtet. Dabei hatte sie sonst nichts außer der Kleidung, die sie trug. „Damals habe ich mir gedacht, falls ich lebend hier herauskomme, dann möchte ich etwas tun, um anderen Opfern zu helfen“, so die heute 47-Jährige weiter. Diese Gedanken hat sie mit drei weiteren Betroffenen Anfang August 2022 mit der Gründung der Asbl. verwirklicht. Das Logo der Vereinigung zeigt einen Phoenix, der aus der Asche emporsteigt und wieder aufersteht. Das Symbol sei sehr passend. Jeder/jedem, der unter Gewalt zu leiden habe, gehe es ähnlich.
Ana Pinto hat es geschafft, von ihrem gewalttätigen Ehemann loszukommen. Nach elf Jahren hat sie sich das erste Mal gewehrt, als er dem Sohn etwas antun wollte. Das sei der Moment gewesen, in dem es bei ihr „Klick“ gemacht habe, erzählt Ana heute. Mutig hat sie sich zwischen ihren Sohn und ihren Mann geworfen. Daraufhin hat ihr heutiger Ex-Mann sie grün und blau geschlagen und mit Füßen getreten, als sie bereits am Boden lag. Da ging ihr durch den Kopf, dass sie beide sterben würden, wenn sie nicht von dort wegginge. Unter dem Vorwand, ins Krankenhaus zu müssen, tat sie das dann auch. Sie konnte bei ihrer Mutter Schutz suchen. Da sie einer Arbeit nachging, konnte sie nach ein paar Monaten in eine eigene Wohnung umziehen – und musste bei Null anfangen. Alles, was zu einem Haushalt dazu gehört, musste erst gekauft werden. Zusätzlich mussten die nicht unerheblichen Anwaltskosten bezahlt werden.
Dies war das zweite Mal, dass sie vor ihrem damaligen Mann flüchten wollte. Ein Jahr zuvor hatte sie es zum ersten Mal versucht, jedoch ohne Erfolg. Die Frauenhäuser und Unterkünfte waren alle belegt und ein Hotel konnte sie sich auf Dauer nicht leisten. Ana kam dadurch jedoch in Kontakt mit einer Psychologin. In der Sitzung fragte sie, was sie an sich ändern müsse, damit ihr Mann sie nicht mehr schlage. Die Psychologin habe ihr fast eine Stunde lang zugehört und schließlich gefragt, ob sie sich vorstellen könne, dass nicht sie das Problem sei. „Das war für mich wie eine Offenbarung“, so Ana Pinto heute. Ab dem Moment ging sie regelmäßig und heimlich zur Therapie und wurde darin bestärkt, die Ehe zu verlassen.
Nach ihrer Flucht war die heute 47-Jährige sechs Jahre lang in Psychotherapie, um über all die Jahre voller Gewalt sprechen zu können. „Jedes Opfer soll sich Hilfe suchen. Niemand verlässt einfach so eine toxische Beziehung.“ Heute besteht ihre Therapie darin, über das Erlebte zu sprechen und Menschen, die Ähnliches durchmachen, Hilfe anzubieten. Am Anfang habe sie sich, wie viele andere, furchtbar geschämt. Sie habe selbst nicht verstehen können, warum sie all das hatte über sich ergehen lassen. Ein tröstlicher Gedanke für sie ist, dass sie durch ihre Vergangenheit anderen Betroffenen zur Seite stehen kann.
917 Polizeieinsätze im letzten Jahr
Bereits früh in der Ehe musste Ana psychische Gewalt erleiden. Kritische Fragen und Bemerkungen zu Kleidung oder zu ihrem Aussehen standen an der Tagesordnung. Das ging so lange, bis sie sich selbst infrage stellte. Dann kam der erste Schlag und die erste Entschuldigung. „Es wird etwas verziehen, das nicht verziehen werden dürfte“, weiß Ana heute. Damals hat sie jegliches Selbstwertgefühl verloren und kam nicht mehr aus der Situation heraus. Die Täter versuchen, ihre Opfer zu kontrollieren und zu isolieren. „Dann gibt es niemanden mehr, der sagt, dass solch eine Situation nicht normal ist.“ Die schlimmsten Erinnerungen hat sie jahrelang unbewusst verdrängt – bis vor zwei, drei Jahren. Bis zu dem Moment, als sie in einem Film eine Frau sah, die in einen Keller ging, in dem alles dunkel war. Sie fühlte sich wie von einem Zug überfahren und wusste wieder, dass ihr Ex-Mann sie regelmäßig eingesperrt hatte. Ana hat heute keinerlei Kontakt mehr zu ihrem Ex. Sie befinden sich noch in einem Rechtsstreit.
2021 führte häusliche Gewalt zu 917 Polizeieinsätzen, öfter als zweimal pro Tag mussten die Beamten eingreifen. 1.712 Opfer häuslicher Gewalt wurden schriftlich dokumentiert. Über 60 Prozent der Leidtragenden sind Frauen, der Rest sind Männer. Die Polizei hat insgesamt 1.365 Gewalttäter identifiziert. Die Problematik besteht in allen Gesellschaftsschichten. Der „Service d’assistance aux victimes de violence domestique“ (SAVVD) hat im letzten Jahr 327 Beratungsgespräche geführt und 3.304-mal telefoniert, um Opfer von Gewalt zu unterstützen.
Wir bekommen lebenslänglich und die Täter nichtMitbegründerin von „La voix des survivant(e)s – Stëmm vun den Iwwerliewenden“
Hinter diesen Zahlen steht in jedem einzelnen Fall eine Familie, eine Frau und/oder ein Mann, die dringend Hilfe benötigen. Ana Pinto wusste in ihrer Situation lange nicht, wohin sie sich wenden sollte. Das sei auch heute nicht viel anders, wie sie immer wieder feststellen muss: „Es ist erschreckend, dass dies niemand so richtig weiß.“ Dies möchte sie zusammen mit der Asbl. ändern. Sie versuchen, die Menschen, die sich bei ihnen melden, an die richtigen Stellen zu verweisen. Und seit August haben sich viele Betroffene bei ihnen gemeldet. Vielen helfe bereits, zu wissen, dass sie nicht alleine sind, dass ihnen zugehört und geglaubt wird.
Auf die Frage, was eine Frau oder ein Mann am besten tun sollte, um aus einer gewalttätigen Beziehung zu flüchten, antwortet Ana, dass gute Vorbereitung wichtig sei. Sie habe damals nicht mal Papiere dabei gehabt. Es sei ein langer Weg. Doch bei Gefahr sollte die Flucht an erster Stelle stehen.
Neben der konkreten Hilfestellung wollen sich die „Stimmen der Überlebenden“ ganz aktiv an einer Verbesserung des bestehenden Hilfsangebotes beteiligen. Zudem fordern sie eine Reform der relevanten Gesetzestexte. Es könne beispielsweise nicht sein, dass ein Mann mehrere Mädchen missbrauche und nur eine Bewährungsstrafe erhalte. „Wir bekommen lebenslänglich und die Täter nicht.“ Sie alle lebten mit der Angst, draußen auf die Täter zu treffen. „Wir schauen uns um und hoffen, dass er nicht hinter uns ist.“
Die Asbl. will auch erreichen, dass die Opfer die anfallenden Kosten nicht selbst tragen müssen, wie zum Beispiel die Gerichts- und Therapiekosten. Nicht jede(r) könne sich das leisten. Auch wollen sie von den zuständigen Stellen, sei es von der Polizei oder der Politik, gehört werden und mitreden. Denn wer wisse am besten, was in sollen Fällen gut funktioniere und was nicht, wenn nicht sie – die Überlebenden?
Orange Week
Die „Orange Week“ ist eine weltweite Kampagne, die auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam machen will. UN Women ruft jedes Jahr dazu auf, sich für dieses Thema einzusetzen. Der nationale Frauenrat (CNFL) und die Luxemburger Sektion von „Zonta international“ organisieren die diesjährige Ausgabe der „Orange Week“ in Luxemburg. Die Aktionswochen laufen vom 25. November 2022 (Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen) bis zum 10. Dezember (Internationaler Tag der Menschenrechte).
In den nächsten Wochen finden, über das ganze Land verstreut, Veranstaltungen zu dem Thema statt.
Hier ein paar davon:
23.11., 19.00 Uhr: Im Düdelinger Rathaus findet der Auftaktabend der „Orange Week“ mit Blick auf die Entwicklungen und Herausforderungen hierzulande statt. In dem Rahmen wird auch „La voix des survivant(e)s – Stëmm vun den Iwwerliewenden“ vorgestellt. Weiter hält Deborah Buchholtz einen Vortrag zum Thema „Gewalt gegen Frauen – Ein Überblick über die Situation in Luxemburg“.
25.11., 12.00 Uhr: Eine Menschenkette in „Orange“ wird in Luxemburg-Stadt vor dem Rathaus auf der Place Guillaume II gebildet.
3.12., 11.00 Uhr: „Marche solidaire“, place de la Résistance in Esch/Alzette.
Das gesamte Veranstaltungsprogramm ist unter www.cnfl.lu zu finden.
Einige Anlaufstellen für Betroffene
La voix des survivant(e)s asbl. – Stëmm vun den Iwwerliewenden: Kontakt über die gleichnamige Facebookseite oder unter lvds.lux@gmail.com
Helpline bei häuslicher Gewalt (für Frauen und Männer):
Tel.: 2060 1060, Mail: info@helpline-violence.lu
www.violence.lu
VisaVi: Informations- und Beratungsdienst für Frauen
Tel.: 49 08 77-1, Mail: visavi@fed.lu
Frauenhaus: Zufluchtsort für Frauen, die vor häuslicher Gewalt flüchten
Tel.: 44 81 81 (24h/24), Mail: fraenhaus@fed.lu
„Service d’assistance“ für Opfer häuslicher Gewalt: Betreuung der Opfer häuslicher Gewalt nach einer Wegweisung („expulsion“) des Täters
Tel.: 26 48 18 62
Mail: savvd@fed.lu
InfoMann: Beratungszentrum für Männer
Mail: info@infomann.lu
Tel.: 27 49 65
KJT: Kinder- und Jugendtelefon
Tel.: 11 61 11
Umedo: medizinisch-rechtliche Spurensicherung von Verletzungen
Richtet sich an Erwachsene, die Opfer von körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt geworden sind
Tel.: 621 85 80 80, Mail: info@umedo.lu
Bei unmittelbarer Gefahr: Kontaktieren Sie die Polizei unter der Notrufnummer 113
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