Balkan / Nicht eingelöstes Versprechen der EU: Balkanexperte Florian Bieber zur Konfliktregion Ex-Jugoslawien
In seinem Buch „Pulverfass Balkan“ beschreibt der Luxemburger Florian Bieber die explosive Gemengelage in Teilen des ehemaligen Jugoslawiens. Der Professor für Politik und Geschichte an der Universität Graz schildert, wie es Großmächten und Diktaturen gelang, in der Region Fuß zu fassen und wie ihnen Autokraten wie Aleksandar Vučić und Milorad Dodik die Tür öffneten – und die Europäische Union dabei fast tatenlos zusah.
Tageblatt: Herr Bieber, in Serbien sind die Kommunalwahlen für Präsident Aleksandar Vučić nicht so ausgefallen, wie er sich das vorgestellt hatte. Dabei waren die Wahlen offenbar manipuliert worden. Waren die Proteste vorauszusehen?
Florian Bieber: Es hatte immer wieder Wahlmanipulationen und Unregelmäßigkeiten bei vorangegangenen Wahlen gegeben. Insofern war es grundsätzlich nichts Neues, dass es Druck auf oder Anreize für Wähler gab, für die Regierungspartei zu stimmen. Was neu war und sich von den bisherigen Wahlen unterschied, war das Ausmaß der Manipulation und dass es zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren so aussah, als sei die Mehrheit für die Regierungspartei knapp. So kam es dazu, was allerdings noch nachgeprüft werden muss, dass etwa Wähler angemeldet wurden, die gar nicht in Belgrad wohnten, sondern serbische Staatsbürger aus Bosnien oder anderen Regionen Serbiens waren. Die Demonstrationen als Reaktion auf die Wahlen haben vor allem damit zu tun, dass es schon vorher zu Protesten gekommen war, also im Frühjahr vergangenen Jahres, die durch zwei Massenschießereien in Belgrad beziehungsweise in der Gegend von Belgrad ausgelöst worden waren. Das brachte Zehntausende Menschen auf die Straßen und hielt bis zum Sommer an, verlief danach aber im Sand. Die Regierung ignorierte mehr oder weniger die Forderungen, in den Medien wurden sie totgeschwiegen. Jetzt sind die Proteste wieder da.
Vučić ist in seiner Macht im Moment sicherlich nicht gefährdet. Er hat alle Medien, Gemeinden und Institutionen unter Kontrolle – und er hat in Serbien unabhängig von der Manipulation die Wahlen gewonnen. Das liegt nicht zuletzt an der Medienkontrolle. Die Wahlen waren sicherlich nicht frei und fair. Aber das zu ändern, ist schwer zu bewerkstelligen.
Inwiefern birgt dies Potenzial für einen größeren Aufstand? Sitzt Vučić wirklich so fest im Sattel?
Ich glaube nicht, dass er durch die Proteste in Bedrängnis gebracht wird. Natürlich wünschen sich die Demonstranten, dass die Wahlen nicht nur in Belgrad, sondern in ganz Serbien wiederholt werden. Aber dafür fehlt ihnen die Masse, auch haben sie nicht die nötigen Druckmittel. Das Regime sitzt in der Tat sehr fest im Sattel und ist wenig kompromissbereit. Außerdem spürt es internationale Rückendeckung. Es gab auch keinen bis wenig Druck vonseiten der Europäischen Union, dass diese Wahlen wiederholt werden sollen. Wenn dies zumindest in Belgrad geschehen würde, wäre dies schon ein Erfolg. Es wäre aber höchstens ein Etappensieg. Vučić ist in seiner Macht im Moment sicherlich nicht gefährdet. Er hat alle Medien, Gemeinden und Institutionen unter Kontrolle – und er hat in Serbien unabhängig von der Manipulation die Wahlen gewonnen. Das liegt nicht zuletzt an der Medienkontrolle. Die Wahlen waren sicherlich nicht frei und fair. Aber das zu ändern, ist schwer zu bewerkstelligen.
Den Rücken gestärkt bekommt Vučić bestimmt auch durch sein freundschaftliches Verhältnis zu Russland und Wladimir Putin. Welche Rolle spielt das?
Die Beziehung ist sehr eng, aber auch intransparent. Wir wissen nicht genau, was da läuft. Es gibt sicherlich auch eine Zusammenarbeit im geheimdienstlichen Bereich. Ein wichtiges Bindeglied ist Aleksandar Vulin, der als Chef des serbischen Geheimdienstes auf amerikanischen Druck hin vor wenigen Monaten entlassen wurde, aber weiterhin Vučić sehr nahesteht, enge Beziehungen zu Russland pflegt und vor ein paar Jahren in seiner Funktion als Innenminister ein Abkommen zur Bekämpfung der „farbigen“ Revolution unterschrieben hat. Die Regierung hat in Zusammenhang mit den jüngsten Protesten immer wieder geäußert, dass sie keinen zweiten „Maidan“ (auch „Euromaidan“, der Begriff bezeichnet die Proteste in der Ukraine zwischen November 2013 und Februar 2014; Anm. d. Red.) wie in der Ukraine zulassen wird. Der Vergleich ist aus westlicher Sicht merkwürdig, weil „Maidan“ für einen Protest gegen einen korrupten Autokraten steht, aber aus der Perspektive des russischen Regimes ein Synonym für einen Umsturzversuch ist. Das enge Verhältnis zu Russland zeigt sich unter anderem dadurch, dass seit dem Beginn des Ukraine-Krieges rund 150.000 Russen in Belgrad leben. Die meisten von ihnen sind bestimmt keine Unterstützer Putins. Dieser hat Interesse darin, dass überwacht wird, was diese Russen in Serbien so treiben, um keine Opposition im Ausland entstehen zu lassen. Die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten ist gegeben, nur wissen wir wenig davon. Aber die serbische Regierung pflegt nicht nur eine enge Beziehung zu Moskau, sondern auch zu China und der Europäischen Union. Vučić spielt diese Akteure gegeneinander aus.
Dodik versucht also, das jugoslawische Modell des Zerfalls auf Bosnien anzuwenden. Er beobachtet ganz genau die politische Großwetterlage und versucht immer, auf die Auflösung des Staates hinzuarbeiten.
Während Vučić noch berechenbar zu sein scheint, dürfte das gefährlichere Pulverfass weiter westlich in der bosnischen Serbenrepublik Srpska stehen.
Ja, die beiden ernsthaften Konflikte finden in Kosovo-Serbien und in Bosnien-Herzegowina statt. Im Letzteren vor allem deshalb, weil wir dort einen schwachen dysfunktionalen Staat haben. Milorad Dodik ist sicherlich nicht der einzige Zündler in der Region, aber der größte, weil er im Gegensatz zu Vučić ganz offen Positionen gegen den Westen und für Russland einnimmt. Vučić ist vorsichtiger und zurückhaltender seit dem Beginn des Ukraine-Krieges. Dodik hingegen sucht Treffen beispielsweise mit Sergej Lawrow (russischer Außenminister; Anm. d. Red.), um eine ganz klar prorussische Linie einzunehmen und droht, seit er 2005 an die Macht kam, mit Sezession und damit mit dem Zerfall des bosnischen Staates. Bisher redet Dodik immer nur davon, weil er genau weiß, dass die Republika Srpska ein kleines Stück Land mit etwa einer Million Einwohnern ist, umgeben von Kroatien und dem restlichen bosnischen Territorium. Es kann sich nicht einfach so lossagen. Er versucht aber immer wieder, den bosnischen Staat zu schwächen und handlungsunfähig zu machen, mit der Hoffnung, dass das langfristig zu dessen Zusammenbruch führt. Dodik versucht also, das jugoslawische Modell des Zerfalls auf Bosnien anzuwenden. Er beobachtet ganz genau die politische Großwetterlage und versucht immer, auf die Auflösung des Staates hinzuarbeiten. Er bereute zum Beispiel, dass er bei der Amtseinführung Trumps nicht sofort die Gelegenheit ergriffen hatte, um die Republika Srpska unabhängig zu erklären. Man kann sich vorstellen, was Dodik vorhat, wenn Trump wiedergewählt wird.
Wäre die Republika Srpska überhaupt (über-)lebensfähig?
Es gibt zwei große Hindernisse: zum einen die geringe Größe des Landes und das gespaltene Territorium; zum anderen die Stadt Brčko. Die Stadt ist ein eigener Distrikt in der bosnischen Ordnung. Wenn die Republika Srpska als eigenes Territorium bestehen wollte, bräuchte es diese Stadt. Sie müsste aber auch Territorium übernehmen, das nicht zur Republika Srpska gehört. Das wäre politisch und militärisch noch schwieriger durchzusetzen. Daher geht es Dodik mehr darum, den bosnischen Staat langsam zu untergraben. Es geht schließlich auch um wirtschaftliche Macht und um die Kontrolle in seinem Landesteil, sodass es ihm womöglich gar nicht so sehr um die Unabhängigkeit, sondern darum geht, dass er schalten und walten kann, wie er möchte und keine Sorge haben muss, dass die bosnischen Institutionen Eingriff auf ihn nehmen. Das Risiko einer Unabhängigkeitserklärung wäre für ihn wahrscheinlich zu groß, weil er damit mehr verlieren als gewinnen könnte.
Besteht also zurzeit nicht die Gefahr eines bewaffneten Konflikts?
Ich glaube, dass momentan kaum jemand ein Interesse daran hat. Es sei denn, die politische Großwetterlage würde sich ändern, Trump und ein paar weitere Rechtspopulisten kämen an die Macht, und Viktor Orbán würde Dodik dazu ermuntern, die Gelegenheit zu ergreifen. Andererseits würden die Bosniaken das nicht akzeptieren, weil für sie die Republika Srpska eh schon eine illegitime politische Einheit ist und auf keinen Fall ein Recht auf Unabhängigkeit hat. Aber wenn die Lage so bleibt wie jetzt, wird es nicht zu einem bewaffneten Konflikt kommen. Dagegen schätze ich die Lage zwischen Kosovo und Serben für gefährlicher ein.
Inwiefern ist die Gefahr dort größer?
Im letzten Jahr gab es immer wieder Spannungen, indem Vučić den Kosovo benutzte und um von jeglicher innenpolitischen Kritik an ihm abzulenken. Die andere ist, dass Vučić die Kontrolle über die Serben im Kosovo übernommen hat, die ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Diese Kontrolle ist ihm etwas entglitten. Die kosovarischen Serben sind sehr unzufrieden mit ihrer Lage. Ob sich das etwas bessert, ist abzuwarten. Sie sehen sich zwischen zwei Mühlsteinen und sind nicht zufrieden mit dem Kosovo als Staat, fühlen sich aber andererseits von Vučić nicht genügend repräsentiert und ernst genommen. Dass sich diese Unzufriedenheit in Gewalt ausdrücken könnte, bedeutet sicherlich eine Gefahr. Das alles sind aber eher lokale Konflikte, wie zum Beispiel im September vergangenen Jahres, als sich eine serbische paramilitärische Gruppe in einem Kloster verschanzte, nachdem sie von der kosovarischen Polizei überrascht wurde. Bei einem Schusswechsel gab es mehrere Todesopfer. Wir wissen noch immer nicht, wer und was hinter diesem Zwischenfall stand. Serbien als Staat würde sich kaum trauen, militärisch im Kosovo einzugreifen. Denn Kosovo steht immerhin unter dem KFOR-Schutzschirm der NATO. Und mit dieser einen Konflikt anzufangen, kann sich Serbien nicht leisten.
In Ihrem Buch „Pulverfass Balkan“ schildern Sie, wie autoritäre Staaten Einfluss nehmen auf die Region des Westbalkan. Die Europäische Union, vorher die Europäische Gemeinschaft, hat dort in den vergangenen 30 Jahren eine oftmals wenig glückliche Rolle gespielt. Was lief falsch? Kann man das an einzelnen geschichtlichen Zeitpunkten festmachen?
Die Europäische Gemeinschaft bzw. Union hat sicherlich Fehler begangen, wenn es um die Verhinderung der Balkan-Kriege ab 1991 und den Umgang mit ihnen ging. Dabei muss man sich aber auch fragen, ob sie überhaupt in der Lage war. Schließlich hatte sie damals noch keine gemeinsame Außenpolitik. Diese bestand nur aus einer Koordination der Politik der Mitgliedstaaten. Ihre Möglichkeiten waren eingeschränkt. Die Europäische Gemeinschaft war weder politisch noch militärisch darauf vorbereitet und glaubte eher an eine rosige Zukunft des vereinigten Europas, aber nicht an die Wiederkehr von Massengewalt. Die Wandlung von der Gemeinschaft in die Europäische Union als außenpolitischer Akteur sowie Maastricht und die Folge-Verträge liefen parallel zu den Jugoslawien-Kriegen und war aufgrund der Krise gewachsen. Der entscheidende Punkt war das Versprechen von Thessaloniki im Jahr 2003, wo man sich zu der europäischen Zukunft der Länder des Westbalkans bekannte. Der strategische Fehler danach war, dass man diesen Prozess nicht mit dem gleichen Enthusiasmus durchzog, wie man die Erweiterung 2004 angegangen war. Man glaubte an die Hegemonie des europäischen Projektes. Dieses hat in dem folgenden Jahrzehnt einen entscheidenden Dämpfer – Finanzkrise, Brexit, Migrationskrise – bekommen, was von dem Erweiterungsprozess ablenkte. Man betrachtete das Projekt nicht mehr als strategisch wichtig und hat dadurch auch nicht die Transformation der Länder bewirkt. Die fehlende Dynamik schadete schließlich der Glaubwürdigkeit der EU im Westbalkan schwer und bestärkte Politiker wie Vučić. Die reden zwar von der Union, haben aber kein Interesse an einem Beitritt, weil etwa die Rechtsstaatlichkeit mit unabhängigen Gerichten ihre Macht gefährden würde.
Hat man durch das Nicht-Einlösen des Versprechens einer EU-Perspektive diese Länder nicht auch in die Arme von Mächten wie Russland und China getrieben?
Genau, das Entscheidende war, weil der Beitrittsprozess in immer weitere Ferne gerückt ist. Außerdem gab es die Erfahrung, dass Länder wie zum Beispiel Nordmazedonien durch Mitgliedstaaten blockiert wurden, wie etwa durch Griechenland, Frankreich und Bulgarien. Dadurch gab man ihnen zu verstehen, dass sie, selbst wenn sie Reformen durchführten, keine Garantie auf eine Mitgliedschaft haben würden. Ähnlich war es auch schon bei den vorangegangenen Erweiterungsrunden, als beispielsweise Österreich davon sprach, wegen der Beneš-Dekrete Tschechien möglicherweise zu blockieren. Italien wollte Slowenien blockieren wegen der italienischen Besitzfragen. Damals gab es jedoch eine ganz klare Botschaft aus den großen EU-Staaten, dass dies nicht sein und es keine bilateralen Blockaden geben dürfe. Solche Blockaden halten den Prozess auf und untergraben die Glaubwürdigkeit der EU. Viele Bürger in den betroffenen Ländern glauben gar nicht mehr an einen Beitritt. Die Eliten sagen dann opportunistisch: Natürlich nehmen wir Geld aus Europa an, aber warum nicht auch aus China oder Russland. Es geht ja nicht um eine Mitgliedschaft, sondern um eine reine Transaktion. Sie suchten sich das Beste, was sie nehmen können. Intransparente Geschäftsbeziehungen mit China sind womöglich attraktiver – zwar nicht für das Land, aber für die Eliten, weil diese damit vielleicht leichter Geld abzwacken können.
Wie lange kann dieser Zustand andauern?
Er dauert schon ziemlich lange. Es ist quasi ein Nichtzustand: Man ist nicht drinnen und ist nicht draußen. So kann man sich damit eine Zeit lang durchwurschteln. Und es gibt zum Beispiel das Türkei-Szenario: Wenn man sich in ein Land entwickelt, für das der Beitritt kein Thema mehr ist, zwar immer noch auf der Liste der Beitrittskandidaten, aber es gibt keine Verhandlungen mehr und sich eine autoritäre Herrschaft konsolidiert hat. Auch für die Westbalkan-Staaten kann es sich in diese Richtung entwickeln, sodass sie nur noch Deals mit der EU machen, wenn es notwendig erscheint. Der Status quo ist ein potenzieller Dauerzustand, der sehr negativ für die Glaubwürdigkeit der Union ist und auch letztlich ein Sicherheitsrisiko darstellt. Die Länder sind umgeben von der EU und von der NATO. Das macht sie auch attraktiv für Russland und China, weil sie dadurch Einfluss gewinnen können in der EU selbst. Für die Union kann das kein Dauerzustand sein. Die Frage ist, wie man dieser Situation begegnet. Der Beginn neuer Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau könnte eine neue Dynamik in die Sache bringen, die sich auf den Westbalkan übertragen ließe. Dass sich das aber in die Praxis umsetzt und der Beitrittsprozess wieder Priorität bekommt, sehe ich momentan aber noch nicht. Es sieht eher danach aus, dass sich der Status quo in näherer Zukunft fortsetzen wird.
Zur Person
Der 1973 in Luxemburg geborene Politologe und Zeithistoriker Florian Bieber ist Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz und leitet dort das Zentrum für Südosteuropastudien. Er koordiniert die „Balkans in Europe Policy Advisory Group“ (BiEPAG). Bieber arbeitete unter anderem fünf Jahre für das Europäische Zentrum für Minderheitenfragen in Sarajevo und Belgrad und war Lecturer für osteuropäische Politik an der Universität Kent (Großbritannien). Sein Forschungsschwerpunkt stellen die Zeitgeschichte und die politischen Systeme Südosteuropas dar.
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Waere Trump vor 25 Jaren US President gewesen ,dann haette es nicht die Natobombardements ohne UN Mandat auf Serbien gegeben . Glaubt man im Ernst die Serben haetten vergessen dass es Russland und China war die ihnen damals beistanden .