Frankreich / Operation „Barrage“ – Der überraschende Sieg der linken Volksfront
Der befürchtete Sieg der extremen Rechten bei den Parlamentswahlen in Frankreich ist ausgeblieben. Der Rassemblement national (RN) landete nur auf Platz drei – hinter den Wahlsiegern vom linken Nouveau Front populaire (NFP) und der Mitte-Allianz Ensemble von Präsident Emmanuel Macron. Eine schwierige Regierungsbildung steht bevor.
Das Land ist gespalten, nicht in zwei, sondern drei Blöcke zersplittert. Der NFP liegt mit 182 Sitzen in der Nationalversammlung vorn, gefolgt von Ensemble mit 168 und vom RN mit 143. Letzterer war eine Woche zuvor noch als stärkste Kraft aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen. Gegen die Rechtsextremen wurde jedoch eine „barrage“ gebildet, eine republikanische Front. Dies hat gut funktioniert. In mehr als 200 Wahlkreisen hatten sich Kandidaten des Präsidentenlagers und des NFP zurückgezogen, wenn der jeweils andere bessere Chancen gegen den RN in der Stichwahl hatte.
Keine Umfrage hatte das Ergebnis der Wahlen in dieser Reihenfolge vorhergesagt. „Hier liegt zweifellos die ‚Klarstellung‘, die Emmanuel Macron im Moment der Parlamentsauflösung wollte“, betont Cécile Cornudet, Leitartiklerin der Wirtschaftszeitung Les Echos, und fügt hinzu: „Die totgeglaubte republikanische Front lebt.“ Dabei schienen die Bedingungen für die Partei von Marine Le Pen so günstig wie noch zu sein. Das Land sei nach rechts gerückt, die Ablehnung von Macron stark, die von Mélenchon ebenfalls, stellt Cornudet fest. „Plötzlich kommen die Nichtwähler in extremis aus ihren Häusern. Das Land erhebt sich und sagt ‚Nein‘. Aus dieser Operation ‚Barrage‘ geht die Linke als große Gewinnerin hervor, trotz der Spannungen nicht zuletzt wegen des umstrittenen Mélenchon und trotz ihres ultra-ausgabenträchtigen Programms.“
„Tripolarisation“
Mittlerweile wird von einer „tripolarisation“ des politischen Spektrums gesprochen: von drei Blöcken. Die Herausforderung besteht nun darin, das Land trotzdem voranzubringen. Keines der drei Lager erreichte eine absolute regierungsfähige Mehrheit. Die konservativen Républicains etwa erlangen 46 Mandate, hinzu kommen diverse Splitterparteien. Wenn von einer Schwächung des Präsidenten die Rede ist, dann würde dies im Umkehrschluss eine Stärkung des Parlaments bedeuten.
„Danke wem?“, fragt Paul Quinio, stellvertretender Redaktionsdirektor der Libération, und gibt gleich die Antwort: „Danke der republikanischen Front!“ Eine deutliche Mehrheit habe der vermeintlich entdämonisierten extremen Rechten den Weg an die Macht versperrt und die von der Aufklärung geerbten republikanischen Werte verteidigt. Quinio bescheinigt den Franzosen „einmal mehr eine außergewöhnliche politische Reife“, indem sie sich massiv mobilisierten – die Wahlbeteiligung war laut Libération höher als im ersten Wahlgang und die höchste bei Parlamentswahlen seit 1981. Mit ihrer Ablehnung einer rechtsextremen Regierung hätten die Franzosen die Vorstellung von einem fremdenfeindlichen, auf sich selbst bezogenen Frankreich zurückgewiesen. Doch nicht zu vergessen sei, warnt der Journalist, dass die „extreme Rechte so stark wie nie zuvor in unserem Land ist“.
Auf der Pariser Place de la République und in den Hauptquartieren der siegreichen Parteien wurde am Sonntagabend lange gefeiert. Die Place de la Bataille de Stalingrad im 19. Arrondissement von Paris, wo die linke La France insoumise (LFI) seine Wahlparty abhielt, war schwarz von Menschen. Von den einzelnen Parteichefs war am Wahlabend zu hören, dass sie bei ihrem Programm keine Kompromisse eingehen würde. Doch weil sie zusammen keine absolute Mehrheit haben, sind sie zu Kompromissen gezwungen. Mélenchon erklärte sich als Erster bereit, das Amt zu übernehmen – doch er wolle sich nicht aufdrängen. Außerdem hatte er es die ganze Zeit abgelehnt, ein Bündnis mit Macrons Block einzugehen.
Wir werden erwachsen sein und diskutieren müssenEuropaabgeordneter
„Wir werden erwachsen sein und diskutieren müssen“, warnte der Europaabgeordnete Raphaël Glucksmann von der kleinen linken und ökologischen Partei Place publique. „Das Land muss beruhigt und versöhnt werden.“ Zwar wurde in der vergangenen Woche bereits über Hypothesen einer Koalitionsregierung diskutiert, aber nicht aus der Sicht einer linken Führung. Die Anhänger Macrons, insbesondere die des linken Flügels, werden sich nun entscheiden müssen, ob sie den NFP unterstützen, sei es durch eine Beteiligung an einer möglichen Koalition oder durch eine Form der Unterstützung ohne Beteiligung.
Innerhalb des NFP bleibt LFI die stärkste Kraft, vor der wieder erstarkten Sozialistischen Partei (PS), den Ecologistes und den Kommunisten. Der erste PS-Sekretär Olivier Faure forderte „Demokratie“ innerhalb der Neuen Volksfront. Marine Tondelier, Chefin der französischen Grünen und neuer Star im linken Parteienspektrum, mahnte ihrerseits ihre Verbündeten zur Besonnenheit. Sie gilt als Architektin des Linksbündnisses. Und die wiedergewählte LFI-Abgeordnete Clémentine Autain rief alle Abgeordneten des NFP dazu auf, sich zu einer „Vollversammlung“ zu treffen, um ihre Strategie festzulegen und nach einer Abstimmung einen Namen für den Premierminister vorzuschlagen, der ihrer Meinung nach „weder Hollande noch Mélenchon“ sein kann. Ersterer ist kein Geringerer als François Hollande, von 1997 bis 2008 PS-Chef und von 2012 bis 2017 Staatspräsident. Ihm gelang im Département Corrèze der Sieg in der Stichwahl und damit ein Comeback ins Parlament.
Blockade befürchtet
Weit von ihrer angestrebten absoluten Mehrheit ist hingegen der RN entfernt. Trotzdem ist es das beste Ergebnis in der Geschichte der Partei und ihres Vorgängers Front national. Parteichef Jordan Bardella sprach gar von einem Durchbruch und bezeichnete die republikanische Front gegen seine extreme Rechte als „Allianz der Schande“. Sehr stark war der RN in der Grenzregion. Derweil hat Partei-Ikone Marine Le Pen bereits die Präsidentschaftswahl 2027 im Visier.
Derweil bot Premierminister Gabriel Attal seinen Rücktritt an, erklärte sich aber bereit, länger im Amt zu bleiben, solange es „die Pflicht“ verlange. „Wir müssen bereit sein, alles infrage zu stellen“, so der 35-Jährige von Macrons Renaissance-Partei. Macron lehnte Attals Gesuch „vorerst“ ab und bat ihn, trotz der Wahlniederlage im Amt zu bleiben, „um die Stabilität des Landes sicherzustellen“ – mit Blick auf die Olympischen Spiele, die am 26. Juli in Paris beginnen. Macron könnte mit der Ernennung eines neuen Regierungschefs sogar bis nach der Sommerpause warten und die Regierung eine Weile kommissarisch im Amt lassen. Viele Beobachter erwarten eine schwierige Phase der Blockade und der politischen Instabilität. Das neu gewählte Parlament kommt bereits am 18. Juli zusammen, um eine Parlamentspräsidentin oder einen Parlamentspräsidenten zu wählen.
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