Kino / Oscar-Gewinner Brendan Fraser als lebender Fettberg
Einem dicken Mann beim Sterben zusehen – was nach widerwärtigem Voyeurismus klingt, wird in Aronofskys „The Whale“ zur empathischen Zerreißprobe. Das liegt vor allem an dem grandiosen Spiel von Brendan Fraser.
Schon in der zweiten Filmminute von „The Whale“ kriecht der Ekel wie eine unsichtbare Riesenmade durch die Zuschauerreihen. Die Kamera fährt von hinten langsam an den schwer adipösen Charlie (Brendan Fraser) heran, der auf seinem Sofa sitzt und zu einem Schwulenporno in die angegraute Jogginghose masturbiert. Klar, Darren Aronofsky ist nicht bekannt dafür, sein Publikum zu schonen, das hat er schon 1998 in seinem Debütfilm „Pi“ unter Beweis gestellt. Aber mit „The Whale“ mutet der Regisseur den Kinogängern eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Abscheu zu, die bis zum Ende nicht gebrochen wird. Trotzdem zieht der Film in seinen Bann – und das hat mehrere Gründe.
Erstens ist da die Filmsprache, die für einen Aronofsky erstaunlich konventionell gerät: ruhige Kamerafahrten, viele halbnahe Einstellungen, wenige Schnitte. Kein Vergleich zu „Requiem for a Dream“ oder dem dokumentarischen Stil von „The Wrestler“, aber die Kameraarbeit passt zu der Erzählung: „The Whale“ ist ein Kammerspiel, fokussiert auf Charlie, der aufgrund seines Gewichts und seiner Scham nicht in der Lage ist, die Wohnung zu verlassen. Die Handlung bewegt sich in den vier Wänden seines abgedunkelten Appartements, wagt sich ein-, zweimal kurz über die Türschwelle, was jedes Mal in einer kleinen Katastrophe endet. Besucher wie Charlies Freundin Liz (Hon Chau), seine Tochter Ellie (Sadie Sink) und der Evangelist Thomas (Ty Simpkins) kommen und gehen, die Erzählung folgt ihnen nicht nach draußen.
Zweitens ist da Charlie. Er ist zwar nicht in der Lage, sein Gewicht zu tragen, aber sein Darsteller trägt den Film. Brendan Fraser hat für diese Rolle einen mehr als verdienten Oscar erhalten. Charlie ist ein offenkundig herzensguter Mensch, den das Leben gebrochen hat und der sich in einem Schneckenhaus aus Selbsthass verkriecht. Dort schiebt er sich Essen als Ersatz für die verlorene Zuneigung hinein – und zwar, bis er daran zugrunde geht. Charlie frisst sich zu Tode. Die größte Stärke von „The Whale“ ist aber die paradoxe Verdichtung, die Fraser meisterhaft porträtiert: Charlie ist sein eigener Peiniger und sein eigenes Opfer, er ist Ahab und Moby Dick in einer Person, besessen und unschuldig, rational und verblendet. Und weil der Film seinen Hauptcharakter ernst nimmt, ohne ins Plakative abzugleiten, verfolgt der Zuschauer Charlies Weg mit einer faszinierenden Mischung aus Mitleid, Abscheu, Verständnis und Wut. „Findest du mich abstoßend?“, will Charlie immer wieder wissen. Das Genie des Films liegt darin, dass einem die Antwort auf die Frage nicht über die Lippen kommen will.
Grausamkeit und Empathie
Ist das grausam? Ja. Aronofsky hat nämlich einen Film über die Spielarten Grausamkeit gedreht: Die Grausamkeit des Alleinseins, die Grausamkeit des Selbsthasses und auch die Grausamkeit der Menschen, im Film repräsentiert durch die Tochter Ellie. Diese bringt nämlich unverblümt zur Sprache, was ihr Vater über sich selbst denkt, mehr noch, sie stellt ihn auch in der Öffentlichkeit bloß. In seinem Selbsthass verwechselt Charlie diese Grausamkeit mit Ehrlichkeit, interpretiert jedes ihrer Worte in seinem Sinne, ihr Geschreibsel wird zu seinem Gebet. Er klammert sich an sie, die er einst verlassen hat, und hofft auf seine Erlösung durch die Absolution, die nur sie ihm erteilen kann. Alle anderen, die ihn retten wollen – die Freundin Liz, der Evangelist Thomas – stoßen bei ihm auf taube Ohren. Gerade die Konstellation Thomas-Ellie-Charlie entwickelt im Film eine Dynamik aus Schuld und Reue, die mehr als nur eine unerwartete Wendung nimmt.
Einen weiteren Oscar hat „The Whale“ für das Make-up bekommen – und auch der ist nicht unverdient. Der Fettanzug, den Fraser trägt, ist erstaunlich lebensecht. Er sieht nicht aus wie ein aufgepumptes Michelin-Männchen, sondern fängt die Metapher eines Menschen, der an seiner Last zerbricht, in dem hoffnungslosen Übergewicht treffend ein. Und obwohl diese Metapher so offensichtlich ist, dass sie einen ab der ersten Szene des Films, in der Fraser nicht einmal zu sehen ist, mit ihrer Symbolik ins Gesicht schlägt, fühlten sich gerade im angloamerikanischen Raum Kritiker, von The New York Times bis The Independent, bemüßigt, „The Whale“ eine „Fettphobie“ zu unterstellen – ein Urteil, das im besten Fall der intellektuellen Faulheit der Kommentatoren geschuldet ist. Denn Aronofsky spielt zwar mit der vermuteten Abscheu seiner Zuschauer, aber er erlaubt es ihnen nicht, sich darin wohlzufühlen. Im Gegenteil: „The Whale“ fordert auf zur Empathie. Das ist eine harte Übung, gerade gegenüber jenen Menschen, denen man in der Realität vermutlich eher aus dem Weg geht.
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