Editorial / Ostdeutsche Landtagswahlen als taktische und ideologische Schlacht
An diesem Sonntag wählen in Deutschland die sogenannten Freistaaten Sachsen und Thüringen ihre neuen Landtage. Frei von Sorge lässt dies die Verteidiger der Demokratie nicht. Die zwei Wahlen genießen vor allem deshalb eine grenzübergreifende mediale Aufmerksamkeit, weil zumindest in Thüringen die als „gesichert rechtsextrem“ eingestufte AfD zum ersten Mal stärkste Kraft im Landtag werden könnte. Allerdings will keine andere Partei mit der „Alternative für Deutschland“ koalieren, die sich als Partei der „kleinen Leute“ gibt, deren Wirtschaftspolitik – neoliberal, protektionistisch und nicht gerade sozial – jedoch der eigenen Anhänger- und Wählerschaft schaden würde. In der Erwartung, dass sie auf rund 30 Prozent kommt, dürfte eine Koalitionsbildung schwierig werden. Auch in den Umfragen für die in drei Wochen stattfindende Landtagswahl in Brandenburg liegt die AfD vorn.
„Wieder Schicksalswahl“ hat das Tageblatt in seiner Freitagsausgabe getitelt. Bereits die Europawahl Anfang Juni wurde angesichts des europaweiten Vormarschs rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien als historisch betrachtet. In Frankreich wurde das Rassemblement national (RN) mit 31,4 Prozent stärkste Kraft, in Italien die postfaschistischen Fratelli d’Italia mit 28,8 Prozent, hinzu kamen die beiden anderen rechten bis ultrarechten Parteien Forza Italia und Lega. In Österreich gewann die FPÖ mit 25,4 Prozent. In Deutschland wurde die AfD zweitstärkste Kraft. Und in Frankreich bahnte sich nach der ersten Runde der Parlamentswahlen ein Wahlbeben an. Bekanntlich konnte der Nouveau Front populaire (NFP) einen RN-Erdrutschsieg gewissermaßen in letzter Sekunde verhindern. Hinter dem Bündnis Ensemble von Präsident Emmanuel Macron wurde das RN nur Dritter. NFP und Ensemble vermochten es, durch den taktischen Rückzug eigener Kandidaten aus den „Triangulaires“ (Dreieckswahlen) die jeweiligen RN-Kandidaten zu schlagen.
Auf ein Taktieren wird es auch bei den anstehenden Landtagswahlen ankommen. Vor allem geht es um eine politische Mehrheitsbildung ohne die AfD, deren Radikalisierung vor allem von ihrem Thüringer Landesverband unter Björn Höcke vorangetrieben wurde. Während in beiden Bundesländern die AfD auf mindestens 30 Prozent gehandelt wird und sich auf Kreis- und Gemeindeebene etabliert – der Sozialwissenschaftler Peter Reif-Spirek spricht von einer „kommunalen Faschisierung“ –, haben sich die in Berlin regierenden Ampelparteien marginalisiert. Die AfD verzeichnet nicht zuletzt Erfolge bei Jungwählern. Wahlgrafiken zu den Europawahlen zeigen, dass die fünf östlichen Bundesländer tiefblau sind, mit Ergebnissen von 27,5 (Brandenburg) bis 31,8 Prozent (Sachsen). Die Rolle des Gamechangers könnte dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zufallen, das im Osten aus dem Stand auf 12,6 (Sachsen) bis 16,4 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern) landete. „Das Verschwinden einer Ostidentität hat sich als falsche Erwartung herausgestellt“, schreibt der Soziologe Steffen Mau, Autor des Buches „Ungleich vereint. Warum der Osten anders ist“. Letzterer ist schon gar nicht „eine westdeutsche Erfindung“, wie der Germanist Dirk Oschmann behauptet.
Bei den Unterschieden im Wählerverhalten verschiedener Regionen oder zwischen Stadt und Land, wie es zuletzt vor allem in Frankreich zu beobachten war, handelt es sich nicht etwa um ethnische Unterschiede, sondern um identitätsprägende Erfahrungszusammenhänge, worauf Mau hinweist, so wie es auch Unterschiede zwischen Migranten verschiedener Generationen gibt. Letztere übrigens sind zu Recht in Sorge vor einem AfD-Wahlsieg. Sie fürchten eine Zunahme von Rassismus, manche überlegen, wegzuziehen. Der Ton gegen sie hat sich verschärft, das Messerattentat von Solingen hat die Stimmung weiter angeheizt. Die Politik ist wie eh und je ein taktisches und ideologisches Schlachtfeld – mit unkalkulierbaren Risiken für die Gesellschaft.
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