Corona-Aufarbeitung / Pandemieverlierer Jugend: Bericht über Wirksamkeit der Corona-Maßnahmen
Welche Lehren sollen Gesellschaft und Politik aus der Covid-Pandemie ziehen? Welche Maßnahmen waren wirksam? Und bei welchen überwogen die negativen Nebenwirkungen? Mit diesen und anderen Fragen hat sich die wissenschaftliche Abteilung der Chamber beschäftigt.
Selten war sich die Chamber so einig wie am 2. Mai dieses Jahres. An jenem Tag stimmte das luxemburgische Parlament einstimmig für eine Motion des Grünen-Abgeordneten François Bausch. Die Chamber forderte die Regierung dazu auf, die Covid-Pandemie aufzuarbeiten und die damals getroffenen Maßnahmen von einer unabhängigen Instanz auf ihre Wirksamkeit überprüfen zu lassen. Mit dieser Aufgabe wurde die „Cellule scientifique“, die wissenschaftliche Abteilung der Abgeordnetenkammer, betraut. Knapp drei Monate später liegt nun der Bericht der Forscher vor.
Das Ergebnis ist im Großen und Ganzen wenig überraschend. In aller Kürze paraphrasiert lautet es: Die luxemburgische Politik hat vor allem in der akuten Phase der Eindämmung des Virus ihre Arbeit in Anbetracht der beispiellosen Situation gut gemacht. Für ihre Corona-Aufarbeitung hat die Wissenschaftsabteilung zahlreiche Studien zu den Auswirkungen der Pandemie in Luxemburg zusammengefasst und analysiert. Die politische Entscheidungsfindung, so die Forscher, sei in dieser Zeit angeleitet gewesen „von epidemiologischer Überwachung, prospektiven Studien und wissenschaftlichen Projekten“. „Während der Pandemie musste die Politik ständig nach einem Gleichgewicht zwischen den Vorteilen und Risiken von Gesundheitsmaßnahmen suchen, wobei epidemiologische, wirtschaftliche, soziale, politische, rechtliche, verfassungsrechtliche und praktische Erwägungen eine Rolle spielten“, schreiben die Autoren.
In den Augen der Wissenschaftler fiel in dieser Situation den Abgeordneten der Chamber eine besondere Aufgabe zu. Die Gesundheitskrise habe zu einer „parlamentarischen Revitalisierung“ geführt. „Die Abgeordnetenkammer als demokratisch gewähltes Gremium konnte so ihre Rolle als Gesetzgeber und als parlamentarische Kontrolle der Regierungsarbeit stärken. Die Rolle der Opposition wurde ebenfalls neu belebt, wie durch die große Anzahl an parlamentarischen Anfragen und dringlichen Anfragen veranschaulicht wird“, schreiben die Forscher in ihrem Bericht.
Legitime Freiheitseinschränkungen
Bezüglich der Entscheidungen, die demokratisch gewählte Volksvertreter in der Corona-Krise getroffen hatten, herrschten auch in der luxemburgischen Bevölkerung unterschiedliche Meinungen vor über deren Härte, Notwendigkeit und Nutzen. Die Experten der Wissenschaftsabteilung der Chamber kommen nach Analyse verschiedener Studien zu einem eindeutigen Urteil: „Einige Vorkehrungen, die die Ausbreitung des Virus wirksam verringern, können vorübergehend legitim sein, auch wenn sie Grundfreiheiten außer Kraft setzen und Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, das soziale Gleichgewicht, die Bildung oder die Wirtschaft haben.“ Dies gelte aber vor allem in der akuten Phase der Krise. Sobald sich die Gesundheitslage ändere und der Wissensstand steige, sollten diese durch gezieltere und angemessenere Maßnahmen ersetzt werden.
Auf den Nutzen der einzelnen Maßnahmen gehen die Forscher im Detail ein. So seien „Social Distancing“, physische Abstandsregeln und Maskenpflicht wirksam gewesen, um Kontakte zwischen Menschen und somit die Verbreitung des Virus zu verringern. Auch die Impfung habe ihren Teil zur Eindämmung geleistet, abhängig – wenig überraschend – vom jeweiligen dominanten Virusstamm, dem Alter des Patienten und dem Datum der letzten Dosis. Das Fazit über die unterschiedlichen pharmazeutischen und nicht-pharmazeutischen Maßnahmen fällt durchweg positiv aus. Zwar sei in Luxemburg im Jahr 2020 ein Anstieg der Todesfälle zu verzeichnen gewesen, dieser betraf aber vor allem Personen über 65 Jahre mit Vorerkrankungen. Einige dieser Todesfälle standen direkt mit einer Covid-Infektion in Verbindung, andere wiederum nicht. In Luxemburg wurde nur im Jahr 2020 eine Übersterblichkeit beobachtet, zwischen 2019 und 2022 lag das Großherzogtum unter dem EU-Durchschnitt.
Die Gesundheitsmaßnahmen konnten die Ausbreitung des Virus in den Augen der Experten wirksam bremsen. Nicht außer Acht gelassen werden dürfen jedoch die kurz- bis langfristigen Nebenwirkungen der Corona-Maßnahmen.
Verschärfte Ungleichheiten
Auch wenn die Politik mit verschiedenen finanziellen Unterstützungssystemen ganz besonders die Menschen in den Fokus genommen habe, die von der Krise am stärksten bedroht waren, hätten sich die sozialen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in Luxemburg während der Gesundheitskrise verstärkt, so das Urteil der Wissenschaftler. Menschen mit geringem Einkommen hatten eine höhere Infektionsrate und ein höheres Risiko, schwere oder tödliche Krankheitsverläufe zu entwickeln. 2022 gab mehr als jeder fünfte Haushalt an, dass er Schwierigkeiten habe, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Besonders hart traf es Haushalte mit Kindern, Alleinerziehende, junge Menschen und Einwohner mit portugiesischer Staatsangehörigkeit. Laut Wissenschaftsabteilung litten Frauen unverhältnismäßig stark unter den sozioökonomischen Folgen der Pandemie. So übernahmen sie einen größeren Anteil der unbezahlten Arbeit, wie zum Beispiel Kinderbetreuung. Auch erhöhte sich während der Pandemie das Risiko häuslicher Gewalt. Hier ließen die verfügbaren Daten jedoch keinen Schluss zu, ob es sich tatsächlich um einen signifikanten Anstieg handle, so die Wissenschaftler.
Ein weiter wichtiger Punkt, den die Forscher der Chamber mit zahlreichen Studien belegen: Die Pandemie und ihre Gegenmaßnahmen haben zu einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens geführt – mit erhöhten Niveaus von Depression, Angst, Einsamkeit und Stress, insbesondere während der Lockdowns. Auch hier treffe es – wie bei der sozioökonomischen Belastung – Frauen und junge Erwachsene am stärksten, schreiben die Autoren. Gleichzeitig habe die Pandemie jedoch auch zu einer Entstigmatisierung psychischer Gesundheitsprobleme beigetragen, was zum Teil einen Anstieg der registrierten psychischen Gesundheitsprobleme erklären könnte.
Eines der größten Opfer der Pandemie, so mag man nach der Lektüre des Berichts feststellen, könnten die Jugendlichen aus benachteiligten Verhältnissen sein. Deren Bildungschancen, schulische Leistungen und psychisches Wohlbefinden haben sich während der Gesundheitskrise verschlechtert, so die Analyse der Wissenschaftler. Besonders die Schließung von Schulen und die Einführung von Heim- und Fernunterricht hätten zu einer wachsenden Bildungsungleichheit in Luxemburg beigetragen. Während weder die Zahl der Schulanfänger im „Enseignement secondaire classique“ noch die Erfolgsquote im Abschlussexamen in der Pandemie abgenommen habe, sei jedoch ein Leistungsrückgang vor allem in Bezug auf die Sprachkompetenz bei luxemburgischen Schülern aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen zu beobachten.
In Zukunft, so der Schluss der Forscher, sollte man deshalb von Schulschließungen absehen, solange es die Situation zulässt. Statt sozialer Distanzierung sollte man eher auf Maßnahmen der physischen Kontaktreduzierung setzen, wie z.B. Schutzmasken, Unterricht im Freien, wechselnde Stundenpläne und größere Abstände im Klassenzimmer.
Für die nächste Pandemie
Insgesamt positiv beurteilen die Autoren des Berichts die Kommunikations- und Aufklärungskampagnen der verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Akteure in Luxemburg. Mit einem Kritikpunkt: „Die Bürgerbeteiligung bei der Entwicklung von Maßnahmen muss jedoch verstärkt werden: Umfragen, Petitionen, Demonstrationen usw. helfen dabei, die Ängste der Bürger zu verstehen“.
Eine unterschiedliche Akzeptanz von Maßnahmen in den verschiedenen europäischen Bevölkerungen sowie unterschiedliche nationale sozioökonomische Kontexte machten auch in Zukunft eine weitgehende Souveränität und Autonomie einzelner Staaten bei der Entwicklung nationaler Strategien zum Umgang mit Pandemien notwendig, so das Fazit der Forscher. Insgesamt hätten die besonderen demografischen Merkmale Luxemburgs „eine agile Bewältigung der Gesundheitskrise“ begünstigt. Dazu zählen die Wissenschaftler neben der geringen geografischen Größe des Landes auch eine dynamische, diversifizierte und stabile Wirtschaft sowie effiziente Sozialversicherungs- und Gesundheitssysteme und ein günstiges Klima des politischen Konsenses und Vertrauens.
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