Neuer Report / Paradoxe Entwicklung bei der häuslichen Gewalt: Mehr Polizeieinsätze, aber weniger Platzverweise
Der „Ausschuss für die Zusammenarbeit von Fachleuten im Bereich der Gewaltbekämpfung“ hat wieder seinen Jahresbericht zur vorgelegt. Bei der Präsentation im Polizeihauptquartier in Luxemburg wurde festgestellt, dass es zwar wieder mehr Alarmierungen wegen häuslicher Gewalt gegeben hat. Die Autoren des Berichts sind aber sicher, dass dies vor allem in einer weiter gestiegenen Bereitschaft zur Anzeige solcher Taten liegt.
Eine Statistik beinhaltet ja oft mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Das ist nach Überzeugung von Taina Bofferding auch beim neuesten Report über häusliche Gewalt in Luxemburg der Fall, der am Mittwoch (21.6.) vorgestellt worden ist: Die Ministerin für Gleichstellung erklärt, hinter einigen der zentralen Zahlen stecke nämlich ein Paradoxon, die schlechten Nachrichten transportierten auch eine gute – relativ gesehen: Denn natürlich wäre die einzig wirklich gute Nachricht in Sachen häuslicher Gewalt, wenn Bofferding zusammen mit Vertretern von Polizei, Justiz und Sozialdiensten verkünden könnte: Es gibt keine mehr. Aber so ist die Welt nicht, auch nicht in Luxemburg. Stattdessen ist also erst einmal zu vermelden, dass es 2022 sogar 7,2 Prozent mehr polizeiliche Interventionen gab als im Vorjahr, nämlich 983. In 246 Fällen sprach sie einen Platzverweis („Expulsion“) gegen die (zu diesem Zeitpunkt oft noch: mutmaßlichen) Täter aus.
Im Vorjahr lag die Zahl der Platzverweise noch ein wenig höher, nämlich bei 249, was einen Rückgang von, immerhin, 1,2 Prozent bedeutet. Das liegt, vielleicht, nahe am statistischen Rauschen, aber wenn man die Menge der Polizeieinsätze und die der zusammenhängenden Platzverweise seit 2013 betrachtet, stellt man fest, dass das eine immer öfter vorkommt und das andere seltener. Vor zehn Jahren führten noch 42,3 Prozent der Einsätze zum Platzverweis, während es vergangenes Jahr nur noch 25 Prozent waren. Dabei seien die entsprechenden Richtlinien beziehungsweise ihre Auslegung eher strenger geworden über die Jahre, beteuert Laurent Seck von der Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht Luxemburg: „Ich verweise eher, als dass ich nicht verweise und meine Kollegen auch.“
Dass die Schwere der Zwischenfälle, die zum Anruf bei der Polizei führt, also stetig abnimmt, könne man derart interpretieren, dass die Menschen heute Gewalt deutlich weniger tolerieren – und sich schneller Hilfe suchen: „Man schämt sich weniger und hat verstanden, dass es normal ist, die Polizei zu rufen“, meint Seck und zieht den Vergleich zur #MeToo-Bewegung, die dazu geführt habe, dass sexuelle Gewalt, die früher schamhaft verschwiegen wurde, heute vermehrt angezeigt wird.
Der Wunsch nach mehr Wissen
Es wäre natürlich auch eine andere Lesart denkbar: Dass es doch auch eine Zunahme der Gewalt gibt, diese aber gewöhnlicher und damit tendenziell „leichter“ ausfällt. Oder schrumpft die Dunkelziffer doch, definitiv? „Ich würde sagen, dass die Dunkelziffer kleiner wird, aber letztlich weiß ich es nicht, weil sie ja dunkel ist“, räumt Seck ein – und wünscht sich, um noch mehr Licht ins Dunkel zu bringen, auch „eine detaillierte kriminologische Analyse der Fälle, damit wir das noch wissenschaftlicher untermauern können“.
Auch bei der Polizei gibt es den Wunsch nach noch mehr Wissen – schon für den Moment, in dem die Beamten zum Einsatz fahren, was 2022 immerhin 81 Mal pro Monat passiert ist, also zwei- bis dreimal pro Tag: „In unseren Fortbildungen mache ich immer deutlich, dass diese Einsätze gefährliche Missionen sind“, sagt Kristin Schmit von der Polizei, „denn man weiß nie, was einen erwartet.“ Dabei könnten die entsprechenden Unwägbarkeiten zumindest verkleinert werden: Eine der Empfehlungen an die Regierung, die der Bericht enthält, geht nämlich in Richtung einer Aufweichung des als zu streng empfundenen Datenschutzes: Die Vorgeschichte eines Täters, wie dessen Neigung zu gewalttätigem Verhalten oder wiederholter Alkohol- oder Drogenmissbrauch, könne nur sehr begrenzt von der Polizei oder der eingeschalteten Staatsanwaltschaft eingesehen werden, da es keinen computergestützten Zugriff auf entsprechend gemeldete Sachverhalte mit einem Alter von mehr als drei Jahren gebe, beklagt Schmit. Das sei problematisch für die Beamten im Einsatz – und für die Bewertung der Situation im weiteren Verlauf: Schließlich wird jeder Einsatz wegen häuslicher Gewalt, unabhängig davon, ob eine Zwangsräumung stattgefunden hat oder nicht, an die spezialisierte Abteilung der Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die über das weitere Vorgehen entscheidet.
In einer zentralen Datei würden Daten zwar zehn Jahre lang gespeichert, doch ermögliche diese veraltete Anwendung keine Suche nach bestimmten Arten von Straftaten oder Verhaltensweisen. Eine entsprechende Reform des Datenschutzgesetzes wurde schon im Bericht für 2019 gefordert – jetzt wird die Forderung wiederholt, dass „zumindest für bestimmte Akteure“ eine „bessere Sichtbarkeit und Behandlung von Wiederholungstätern“ wünschenswert sei. Tatsächlich kann die Fähigkeit, die Situation umfassend einschätzen zu können, im schlimmsten Fall eine Frage von Leben und Tod bedeuten: 2022 gab es zwei weibliche und drei männliche Todesopfer, die nach derzeitigem Stand der Ermittlungen in den Kontext häuslicher Gewalt gestellt werden.
Betreuung für Betroffene – und Täter
Aber auch abseits der Extremfälle ist klar: Wiederholungstäter sind ein wichtiger Faktor im Geschehen. So verzeichnete der „Service d’assistance aux victimes de violence domestique“ (SAVVD) im Jahre 2022 bei 24 Prozent der Platzverweise rückfällige Täter.
Kommt es zu häuslicher Gewalt, stehen für die Opfer, aber auch für die Täter („Weniger Täter bedeuten auch weniger Opfer“, erinnert Taina Bofferding), soziale Dienste bereit, die im ersteren Fall aktiv den Kontakt suchen und Beratung anbieten – etwa dazu, wie die Verlängerung eines Platzverweises, der zuerst zwei Wochen andauert, um bis zu drei Monate verlängert werden kann (was 2022 in rund einem Drittel aller Fälle auch beantragt wurde). Andere Maßnahmen wie ein Näherungs- und Kontaktverbot können ebenfalls angestrebt werden. Der SAVVD verzeichnete im Berichtszeitraum 300 entsprechende Beratungen und führte dazu 3.292 Telefonate.
Olga Strasser macht diesen Job seit 20 Jahren und stellt fest, dass sich seither sehr viel getan hat, was sich auch in der Ausdifferenzierung zeige: „Als ich angefangen habe, gab es nur uns.“ Während man früher auch für Kinder zuständig war, gibt es für sie inzwischen eigene Angebote wie PSYea und „Alternatives“ (sie hatten 2022 jeweils 137 Fälle zu bearbeiten) – sowie „Riicht eraus“, ein Dienst des Luxemburger Roten Kreuzes, der sich um Täter häuslicher Gewalt kümmert. Die kommen freiwillig, auf Weisung durch die Justiz (nach einer Verweisung) oder per gerichtlicher Auflage, etwa im Rahmen von Bewährungsauflagen.
Zeit zum Luftholen
Auch Strasser ist überzeugt, dass Menschen heute viel schneller die Polizei anrufen – nicht erst nach Schlägen (laut Polizeistatistik 41 Prozent aller Fälle) und Todesdrohungen (14 Prozent), sondern auch schon mal nach „leichterer“ Gewalt wie Schubsen und Anschreien (4 Prozent).
„Leicht ist das natürlich trotzdem oft nicht“, stellt Strasser fest. „Das sind ja oft Familienangehörige. Und das Opfer ruft oft nur die Polizei, weil es erst einmal will, dass die Gewalt aufhört.“ Darum sei es auch sinnvoll, dass für den Platzverweis, der oft beiden Seiten Zeit zum Luftholen und Nachdenken gibt, keine Anzeige nötig ist – sondern durch die Justiz angeordnet wird. Und wenn es zu entsprechend schwerer Gewalt kommt, bleibt es natürlich nicht beim Platzverweis – wer etwa andere verletzt oder mit dem Tod bedroht, gegen den wird auch entsprechend strafrechtlich ermittelt.
(Hinweis: In diesem Text werden die Begriffe Täter und Opfer der besseren Lesbarkeit wegen verkürzt genutzt. Es handelt sich, in praktisch allen Fällen, natürlich zunächst um „mutmaßliche“ Täter und Opfer.)
Einige Zahlen aus dem Report
Das geänderte Gesetz vom 8. September 2003 über häusliche Gewalt sieht vor, dass ein Ausschuss für die Zusammenarbeit zwischen Fachleuten im Bereich der Gewaltbekämpfung, der sich aus Vertretern der für die Umsetzung des Gesetzes zuständigen staatlichen Stellen, der zugelassenen Hilfsdienste für Opfer häuslicher Gewalt und der zugelassenen Dienste, die Täter häuslicher Gewalt betreuen, zusammensetzt, jährlich einen schriftlichen Bericht an die Regierung erstellt. Dieser enthält eine detaillierte Bestandsaufnahme der Situation.
Aus dem neuesten Report geht unter anderem hervor, dass …
… 16 Prozent der Polizeiinterventionen in der Hauptstadt abliefen – und 50 Prozent im Südwesten;
… in Esch/Alzette die Anzahl von 89 auf 125 Interventionen angestiegen ist;
… es 1.110 weibliche und 732 männliche Betroffene gibt;
… Männer (oder Jungen) 951 Mal Täter waren – und Frauen (oder Mädchen) 434 Mal;
… die Bezirksgerichte Luxemburg und Diekirch 1.489 Fälle zu bearbeiten hatten.
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„“2022 gab es zwei weibliche und drei männliche Todesopfer, die nach derzeitigem Stand der Ermittlungen in den Kontext häuslicher Gewalt gestellt werden.“ Sorry, aber da fehlen mir ein paar Erklärungen: 1., gab es 2022 mehrere, grausige Frauenmorde, von denen mindesens in die statistische Kategorie, häusliche Gewalt fallen dürften. Die Opfer häuslicher Gewalt sind in der Regel weiblich. Nun scheint es aber so,, als ob mehr Männer zu Tode kommen würden. Die Zahl der Todesopfer ist aussergewöhnlich hoch. Laut offizieller Statistik hat sich die Zahl der Personen, die aufgrund eines Gewaltverbrechens, ums Leben kamen, verdreifacht. Falls die Zahlen, die gestern genannt würden, würde diese Zunahme vor allem auf die Zunahme der Fälle häuslicher Gewalt mit tödlichem Ausgang zurückgehen. Wer sind die männliche Opfer? Partner, Kinder? Wer sind die Täter? Aufklärung tut not, auch von Seiten der Medien.