Chamber / Piraten mit Gesprächsbedarf: Austritt von Polidori offenbart interne Konflikte
Eigentlich wollten die Piraten zur Sommerpause Bilanz ziehen nach ihrem ersten politischen Jahr zu dritt in der Chamber. Doch dann macht der Abgeordnete Ben Polidori am Morgen der Pressekonferenz seinen Parteiaustritt öffentlich. Über eine Partei mit Gesprächsbedarf.
Es sollte um Petitionen gehen, um politische Mitbestimmung, um Transparenz. Klassische Piraten-Themen. Doch dann kommt alles anders. „Heute Morgen wurde bekannt, dass Ben Polidori unsere Partei verlassen wird“, sagt Marc Goergen am Montagmittag im schattigen Innenhof des Hôtel Le Place d’Armes. „Das macht mich und viele andere Menschen in der Partei sehr traurig.“ Polidoris Austritt ist das alles überschattende Thema an diesem Mittag, an dem die Piraten eigentlich Bilanz ziehen wollten – nach ihrem ersten politischen Jahr zu dritt im luxemburgischen Parlament.
Die beiden übrigen Piraten-Abgeordneten Sven Clement und Marc Goergen können ihre Enttäuschung nicht verstecken. Die Situation sei „emotional nicht einfach zu verkraften“, sagt Goergen. „Wir haben im vergangenen Jahr Ben aufgebaut“, sowohl politisch als auch privat habe man viel Zeit investiert. „Ich verstehe, wenn man nach einer Wahl emotional in einem Tornado steht“, sagt Clement. Was er nicht versteht: dass Polidori zwar aus der Partei ausgetreten ist, sein Mandat im Parlament aber behält. „In Luxemburg wird man mit und durch eine Partei gewählt, nicht allein“, sagt Clement. „Man lässt einen nachrücken, damit der die Chance bekommt, das zu machen, was man selbst nicht konnte.“
Was Polidori nicht mehr konnte: weitermachen in einer Partei, die „mit ihren Entscheidungsträgern eine Richtung eingeschlagen“ hat, „die nicht mehr meine Werte widerspiegelt und nicht mehr meinen Überzeugungen entspricht“. So steht es in der Pressemitteilung, die der Ex-Pirat am Montagmorgen verschickt hat. Darin spricht er auch von einem „instabilen und konfliktreichen Arbeitsumfeld auf der Entscheidungsebene der Partei“. „Ich habe keine persönlichen Probleme mit Ben“, sagt Clement. Polidori habe sich viel von der Partei erwartet und sei mit der Realpolitik konfrontiert worden, die „nicht immer allen Idealen gerecht werden“ könne, so Clement. „Ich habe nicht das Gefühl, dass er gegangen ist, weil er Streit mit einem von uns hatte.“
Polidori will auf lange Sicht nicht parteilos bleiben
Polidori selbst will auf die konkreten Hintergründe seines Austritts nicht eingehen. Er wolle keine „Schlammschlacht“ lostreten, sagt der Abgeordnete gegenüber dem Tageblatt. Die Entscheidung sei ihm emotional nicht leichtgefallen, umso mehr freue er sich über die Unterstützung und das Verständnis, das er von Marc Goergen erfahren habe, dem er freundschaftlich verbunden bleibt. Sein Mandat habe er behalten, so Polidori, „weil ich auch als Person gewählt wurde, mit meinen Werten. Ich habe eine Verantwortung gegenüber den Wählern.“ Seine Zeit als parteiloser Abgeordneter könnte kurz ausfallen. „Auf längere Sicht will ich nicht ausschließen, mir wieder eine Parteikarte zuzulegen“, sagt Polidori, „um die nötigen Akzente setzen zu können.“ Eine Idee, um welche Partei es sich handeln werde, habe er auch schon, er brauche aber noch Zeit, um die jüngsten Ereignisse zu verarbeiten.
Für Polidoris Austritt scheinen vor allem zwei Dinge ausschlaggebend gewesen zu sein, ein abstrakterer und ein konkreter Grund: die Hierarchie unter den Piraten-Abgeordneten, also die Vormachtstellung von Sven Clement, und der Umgang der Partei mit der Causa „MALT“. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich eine App namens „Mobile Assisted Language Tool“, für deren Entwicklung die Piratenpartei 2016 rund 135.000 Euro aus einer öffentlichen Ausschreibung erhielt. Dass das Projekt vor allem dazu diente, um die Firma von Sven Clement und Jerry Weyer zu finanzieren, sei Polidori immer aufgestoßen, erklärt Marc Goergen am Rande der Bilanzrunde im Gespräch mit dem Tageblatt. „Ben ist wegen gewissen Werten zur Partei gekommen und hat gesehen, dass das, was Sven gemacht hat, nicht den Werten entspricht, weshalb er beigetreten ist.“
Er habe sich zusammen mit Polidori dafür eingesetzt, so Goergen, dass die Partei, die 92.000 Euro an Steuergeldern, die zurückgefordert werden, auch bezahlt und einen Fehler eingesteht. „Sven ist der Meinung, dass da keine Fehler geschehen sind und das ist natürlich auch ein Grund, warum Ben im Nachhinein Magenschmerzen damit hatte.“ Sowohl Polidori als auch Goergen waren damals noch nicht in der Partei aktiv beziehungsweise in keiner Entscheidungsposition. Von den Details der Causa „MALT“ hätten sie „wie Puzzlestücke“ erst aus der Berichterstattung erfahren. „Als Parteileitung müssen wir das aufklären“, sagt Goergen heute. In der Partei herrsche ein Konsens darüber, dass das Geld zurückgezahlt werden muss. „Aber wer es zurückzahlen muss, darüber sind wir uns noch nicht einig.“
Auf der Pressekonferenz zur Bilanz erklärt Clement, dass so ein Auftrag wie damals nach dem aktuellen Parteifinanzierungsgesetz gar nicht mehr möglich sei. Goergen bekräftigt, dass die Partei dabei sei, ihre Statuten zu überarbeiten, um solche Praktiken – egal in welcher finanziellen Höhe – nicht mehr zu akzeptieren. Ein Prozess, an dem auch Polidori beteiligt war. „Ich habe versucht, ihn davon zu überzeugen, dabeizubleiben“, sagt Goergen. „Damit wir das gemeinsam verändern können.“ Doch Polidori habe keine Möglichkeit gesehen.
Drastische Folgen für die Piraten im Parlament
Für die nunmehr auf zwei Personen geschrumpfte Gruppe der Piraten und ihre Mitarbeiter hat Polidoris Entscheidung drastische Folgen. Sie verlieren ein Drittel ihres Budgets. Zusammen mit der Causa „MALT“ könnte sich das zu einer Zerreißprobe für die Partei auswachsen. „Ben genießt eine große Solidarität unter dem Personal“, sagt Goergen. Nicht jeder sei bereit, einfach unter Clement weiterzuarbeiten, als sei nichts passiert. Die ersten Rückmeldungen, die er von der Basis erhalten habe, so Goergen, seien wütend: Wie könne es sein, dass Ben gehe, wenn jemand anderes etwas falsch gemacht habe?
Im Innenhof des Hôtel Le Place d’Armes will sich Clement ein bisschen Rückblick nicht nehmen lassen. Insgesamt 380 Fragen hätten die Piraten in den vergangenen Monaten in der Chamber gestellt – und viel zu oft habe die Regierung ausweichend geantwortet, so Clement. „Antworten, die mich als Parlamentarier nicht zufriedenstellen.“ Ein Beispiel: die Lieferengpässe bei Medikamenten. Hier habe man, sagt der Abgeordnete, auf vier von fünf konkreten Fragen keine zufriedenstellende Antwort bekommen. „Dann stellen wir die vier Fragen eben noch mal“, so Clement. Man habe im Parlament jedoch nicht nur nachgefragt, sondern auch versucht zu gestalten – im Rahmen der Möglichkeiten einer Oppositionspartei. Insgesamt haben die Piraten 24 Motionen eingereicht, zu Themen wie Chatkontrolle, dem Bettelverbot und der Wohnungskrise. Zwei Motionen wurden vom Parlament angenommen. Außerdem habe man drei Gesetzesvorschläge eingereicht. Einer der größten Aufreger: die neue Unterstützerzahl, die eine Petition braucht, bevor sie in einer öffentlichen Debatte diskutiert wird. Die war im Mai um 1.000 Unterschriften auf insgesamt 5.500 heraufgesetzt worden. „Absurd, dass wir die Summe erhöhen müssen, um die Qualität der Petitionen zu erhöhen“, so Clement.
Solche Fragen der politischen Mitbestimmung hätten an diesem Montag normalerweise im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden. Das parlamentarische Dreier-Gespann der Piraten hätte erklärt, welche großen Themen sie nach der Sommerpause angehen werden. Nun ist die Zukunft erst einmal auf Eis gelegt. Clement will keinen Ausblick geben, keine Versprechungen machen, „bis wir die andere Sache geklärt haben“. Am Montagabend trifft sich die Parteileitung zu einer ersten Krisensitzung.
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