Theater / Pizza für alle? Calle Fuhrs „Gipfelstürmer“ im Kasemattentheater
Zwei Denker möchten die Menschheit vom Sozialismus befreien – und stürzen die Welt in den Albtraum des unendlichen Wachstums: Marco Damghani inszeniert einen manchmal zu belehrenden Text mit viel Ironie und Nonsens, der Spagat zwischen Klamauk und Entrüstung gelingt jedoch nicht immer.
Wir befinden uns im Nachkriegseuropa. Der Sozialismus ist auf dem Vormarsch, der Kapitalismus scheint nach der Wirtschaftskrise der 30er und dem Weltkrieg geschwächt, kaputt, überlebt, der Traum der Bereicherung aller ein Hirngespinst, das in einer totalitären Sackgasse gestrandet ist. Um es mit Jean-François Lyotard zu sagen: Das kapitalistische Metanarrativ hat sich auserzählt, erschöpft. Oder?
Um der totalen Verstaatlichung und den für die Liberalen damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen entgegenzuwirken, trifft sich eine kleine Gruppe von Denkern in einem Schweizer Bergdorf.
Dort stellt die Mont Pèlerin Society in dem, was man damals noch nicht Thinktank nannte, eine neue Form des Wirtschaftens auf die Beine: In „Gipfelstürmer“ bringt Calle Fuhr das Märchen des Neoliberalismus auf die Bühne und erzählt mit viel Ironie die Geschichte der Erfindung eines anfangs marginalen Wirtschaftsmodells, das uns erst absolute Freiheit versprach, nach und nach den Sozialismus verdrängte und irgendwann so allumfassend wurde, dass es kein Weltbild mehr war, sondern zur Welt selbst wurde – und im Endeffekt fast all unsere Freiheiten eindämmte. Mark Fisher bezeichnet diesen Paradigmenwechsel als „kapitalistischen Realismus“.
Um die verschiedenen Etappen dieses Schauermärchens – von den zaghaften Beginnen über die ersten Geh- und Manipulationsversuche im Rahmen von Pinochets Putsch in Chile bis hin zu den steigenden Machteinflüssen der neoliberalen Strippenzieher an der Uni und in den hohen Sphären der Politik – zu verdichten, greift Fuhr auf einen Handlungsrahmen zurück, sodass das Stück immer wieder zwischen Spiel und Erzählung, Showing und Telling, Didaktik und Inszenierung jongliert: ein etwas schwieriger Spagat, der dem Regisseur Marco Damghani dank einiger Regieeinfälle stellenweise gut gelingt.
Auf der linken Bühnenseite steht eine Tafel, an der Fotos, Logos, Statistiken und Filmplakate die Geschichte des Neoliberalismus in einem scheinbar wirren Durcheinander darstellen. Mithilfe eines roten Fadens verknüpfen die Strippenzieher diese losen Fragmente zum Siegesnarrativ – eine einfache, jedoch effiziente Methode, um zu zeigen, wie die Gewinner aus der Chronik ihrer Etappensiege eine einheitliche Menschheitsgeschichte zusammenschustern. Die Tafel und der rote Faden suggerieren zudem, dass hier recherchiert wird. Im Herzen der Ermittlungen: die stinkende Leiche des Kapitalismus.
Während Thelen das Publikum durch den Abend führt, die Ellipsen zwischen den verschiedenen Szenen mit Hintergrundinformationen füllt und immer wieder in die Rollen historischer Figuren wie Karl Popper oder Margaret Thatcher schlüpft, wird das Gipfelstürmerduo, bestehend aus Friedrich August von Hayek, einem anfangs überzeugten Sozialist, der von Ludwig von Mises zum ebenso überzeugten Liberalisten umgeschult wurde, und Milton Friedman, einem frisch gebackenen Dozent an der University of Chicago, durchgehend von Nora Zrika, beziehungsweise Pitt Simon gespielt, auch wenn beide manchmal kurze Nebenrollen belegen.
Die stinkende Leiche des späten Kapitalismus
Während Zrikas Hayek mit Samtjacke und Riesenbrille im archaischen Akademiker-Outfit über die Bühne rennt, erscheint Simons Friedman mit Nerdbrille, Trucker-Schnauzer, lackierten Streberhaaren und einer vestimentären Vorliebe für peinliche Anzüge in Rotstichen durch und durch lächerlich. Ähnlich klamaukig und überspitzt sind dann auch die einzelnen Dialoge und Szenen, deren One-Liner wie „Links von mir ist alles Moskau“ oder „Kollektivismus ist die Einstiegsdroge, die dich in den Kommunismus führt“ durchaus funktionieren.
So verdeutlicht Calle Fuhrs Text: Diese Männer, denen wir die Welt, in der wir leben, verdanken, sind genauso lachhafte, gierige Gestalten wie die Politiker, mit denen sie zunehmend zusammenarbeiten. Wieso wir überhaupt auf solche Menschen gehört haben und es immer noch tun, erscheint ihm rätselhaft.
Trotz vieler spannender Ansätze leidet „Gipfelstürmer“ unter den Schwächen so einiger politisch-ideologischer Theaterstücke, die dem Zuschauer mit ellenlangen Diskursen erklären, was sich in den letzten Jahrzehnten Weltgeschichte so abgespielt hat. Gab es bereits bei Ian De Toffolis (ansonsten sehr tollen) „Confini“ ein paar didaktische Passagen über die Entstehungsgeschichte der EU zu viel, so ist auch hier der pädagogische Metarahmen etwas too much – und das, obschon Thelen versucht, ebendiesen Rahmen mit humoristischen Intermezzi zu dekonstruieren. Auch kommt der Text nicht ganz ohne Klischees oder Vereinfachungen aus, wenn Fuhr beispielsweise ein etwas zu karikaturhaftes Bild vom bösen US-Amerika zeichnet.
Zum zentralen Sinnbild wird dabei die auch gerne für Statistik-Grafiken metaphorisierte Pizza: Während der ersten Publikumsinteraktion nimmt Thelen eine Bestellung auf, fragt einen Zuschauer nach der Rezeptur seiner Wahl (am Freitag gab es Salami). Man versteht: Der Neoliberalismus verspricht Pizza für alle.
Die erste Lieferung trudelt ein, Friedman und Hayek denken jedoch nicht daran, dem Publikum ein Stück anzubieten, sondern debattieren selbstverliebt über ihr neues Wirtschaftsmodell, während sie gierig Pizzascheiben verschlingen. Man begreift: „Pizza für alle“ bedeutet „Pizza für all diejenigen, die das ‚Pizza-für-alle‘-System erfunden haben“.
Gen Ende der Vorstellung, in einer der stärksten Szenen des Stücks, erscheint Thelen als sowohl wahnsinnig gehetzter wie auch final erschlaffter Uber-Lieferant an der Seitentür des Theaters, um dem Geist von Friedman die bestellte Salami-Pizza in die Hand zu drücken. Friedman erkennt den Lieferanten nicht wieder – dabei handelt es sich um den Makler Emil, dem er zu Beginn des Stückes die neoliberale Ideologie mit leeren Versprechen und billiger Rhetorik schmackhaft gemacht hat. „Unser Name ist Emil und wir verdienen acht Euro die Stunde“, deklamiert Thelen im monotonen Tonfall eines Zombies.
Die letzte Freiheit des Neoliberalismus, so schlussfolgert „Gipfelstürmer“, ist die Freiheit, an Armut zu verrecken. Es ist eine starke Conclusio für ein etwas zu plakatives, zerfahrenes Stück.
Info
„Gipfelstürmer“ von Calle Fuhr, mit Pitt Simon, Philippe Thelen und Nora Zrika. Regie und Bühne: Marco Damghani. Kostüme: Franziska Kirschner. Regieassistenz: Sara Goerres. Textmitarbeit und Recherche: Tobias Schweiger. Licht und Video: Krischan Kriesten. Technik: Pascal Klein. Regiehospitant: Christophe Bleser. Spieldauer: 75 Minuten. Weitere Vorstellungen heute Abend, am Mittwoch und am Freitag um 20.00 Uhr.
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