Netflix / Platon, Aristoteles und Henker in roten Overalls: Wie gefährlich ist das Netflix-Phänomen „Squid Game“?
Das Netflix-Phänomen „Squid Game“ löst sie wieder mal aus: die altbackene Debatte über die Darstellung von Gewalt in der Fiktion. Dabei werden alte Trugschlüsse und Klischees reaktiviert, das eigentliche Problem, das im Zentrum des momentanen Verwechslungsspiels zwischen Fiktion und Wirklichkeit steht, wird allerdings verkannt.
Es ist die Kluft zwischen den bunten, grellen Farben, den Kinderspielen mit Murmeln, Puppen und Regenschirmen und den gnadenlosen Hinrichtungen, den sich türmenden Leichenhaufen, die schockiert: In „Squid Game“ wird 450 verzweifelten Südkoreanern eine scheinbar einmalige Gelegenheit geboten, sich aus der sozialen Misere, der Armut zu befreien, die Schuldenberge und drohenden Knaststrafen loszuwerden.
Wer die sechs Spiele überlebt, kehrt steinreich nach Hause zurück – Verlierer werden allerdings eliminiert. Im Gegensatz zu Videospielen hat jeder Spieler aber nur eine Chance, verfügt über ein einziges Leben – das eigene. Erinnern tut die koreanische Erfolgsserie an Richard Bachmanns „Running Man“, die sozialkritische Dimension kennt man aus Bong Joon-hos Cannes- und Oscar-Preisträger „Parasite“, der gegen Ende der Serie angedeutete Rachefeldzug, die Handlungswendungen und die Entführung an einen unbekannten Ort mitsamt Betäubungsgas verweisen hingegen deutlich auf Park Chan Wooks „Old Boy“. Trotz dieser zahlreichen und relativ deutlichen Anleihen funktioniert „Squid Game“ aber durchaus als eigenständige Fiktion: Die Serie transzendiert die Summe ihrer Referenzen und ist, sieht man von einigen erzählerischen Abkürzungen und Ungereimtheiten ab, besser, als der Mainstream-Erfolg es vermuten ließe.
A History of (fictional) Violence
Der Erfolg der Serie hat jedoch Ausmaße angenommen, die den Rahmen der Fiktion sprengen. Bilder von Menschenmassen, die sich um eine 4,50 Meter hohe Puppe tummeln – genau die, aus deren Mund in der ersten Episode plötzlich der Lauf einer Waffe ragte und die so für 249 Morde innerhalb von wenigen Minuten sorgte –, Selfies von Halloween-Feten, in denen die Aufseher in ihren bedrohlichen Overalls fröhlich neben den Spielern posieren, Nachrichten von Kindern, die im Schulhof die mörderischen Spiele nachstellen, Zeugenaussagen von Eltern, deren Kids bei überforderten oder nachlässigen Eltern anderer Kinder die brutale Serie geguckt haben – all dies deutet auf eine beispiellose Verstrickung von Fiktion und Wirklichkeit hin, die Warnmeldungen aus allen Ecken auslöst: Die Polizei, aber vor allem Erzieher und Lehrer warnen vor dem negativen Einfluss, den die Serie auf Kinder und Jugendliche haben könnte.
Neu ist dieses Phänomen nicht, verwunderlich ist höchstens das Ausmaß. Im Allgemeinen gilt: Fiktion lässt kalt – außer sie inszeniert Gewalt. Dann und nur dann gerät sie ins Rampenlicht: Man erinnere sich an schockierte Reaktionen auf Spiele wie „Grand Theft Auto“ oder „Call of Duty“. Jedes Mal, wenn ein Schüler Amok läuft, muss sie herhalten, die Fiktion. Dann häufen sich Fragen wie: Hat der Amokläufer Videospiele gespielt? Wie brutal waren diese? Falls der Amokläufer irgendein gewalttätiges Videospiel im Spielschrank hatte, ist es sonnenklar: Das Spiel trägt Schuld. Dass viele Jugendliche „GTA“ oder „Call of Duty“ spielen, sich Horror- oder Kriegsfilme anschauen und dennoch nicht zur Pistole greifen, scheint bei solch irreleitenden Verallgemeinerungen herzlich egal.
Sogar der IS scheint den Eindruck zu haben, dass bei Jugendlichen die Gabe, zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden, meist nicht so ganz ausgereift ist: Mithilfe von Spielen mit „Call of Duty“-Ästhetik sollen westliche Jugendliche radikalisiert geworden sein – auch hier war der Erfolg eines solchen Unterfangens laut Experten aber nur dann möglich, wenn der Jugendliche sich sozial ausgegrenzt fühlte und ihm ein Gefühl von Zugehörigkeit versprochen werden konnte. Sprich: Es reicht nicht aus, Gewalt auf dem Schirm zu zeigen, um die Lust, Gewalt in der Wirklichkeit auszuüben, auszulösen.
Zwei alte Trugschlüsse
Hinter diesen Anklagen verstecken sich zwei Trugschlüsse, die so alt wie die westliche Philosophie und das altgriechische Theater selbst sind. Der erste Trugschluss geht so: Fiktionen werden immer gewalttätiger. Das ist völliger Quatsch. Shakespeares erstes Theaterstück „Titus Andronicus“ ist an Gewalttätigkeit kaum zu übertreffen: Die Figur Lavinia wird nicht nur vergewaltigt, man schneidet ihr danach die Hände ab und reißt ihr die Zunge heraus, damit sie die Täter weder mündlich noch schriftlich identifizieren kann. Antike Theaterstücke waren brutal, für ihre Remakes in der französischen Klassik verordnete man deswegen, Szenen der Gewalt nicht zu inszenieren, sondern stets nur nachzuerzählen, um dem „public bourgeois“ Albträume zu ersparen. Die Liste an Beispielen schierer Gewalt in Fiktionen ist lang und würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.
Was sich jedoch im Laufe der Zeit ändern mag, ist die Verfügbarkeit und die Verbreitung fiktionaler Gewaltdarstellung – „Squid Game“ und „GTA“ sind bei jungen Menschen weitaus mehr im Umlauf als Theaterstücke, die – und das ist wesentlich – eher von einem Publikum rezipiert werden, das den Umgang mit Fiktion (und fiktionaler Gewaltdarstellung) kognitiv erlernt hat und verarbeiten kann.
Der zweite Trugschluss geht so: Wer auf dem Bildschirm Gewalt sieht, ist umso schneller bereit, diese in der Realität auch auszuüben. Darüber stritten sich bereits die alten Griechen. Platons Misstrauen gegenüber den Künstlern und Kulturschaffenden, die er aus seiner Cité verbannen wollte, gründet in seiner Überzeugung, dass das Publikum der Mimesis – also der fiktionalen Nachahmung von möglich oder potenzial realen Geschehnissen in der Kunst – verfallen würde und diese somit gefährlich wäre. Aristoteles hingegen vertrat die Meinung, Fiktion und Mimesis wären kathartisch: Wer auf einer Theaterbühne einen eifersüchtigen meuchelnden Ehemann sieht, wird einen solchen Racheakt in der Wirklichkeit unterlassen, weil er seine Triebe quasi stellvertretend ausgelebt hat. Dieses kurze Resümee mag karikaturhaft wirken, noch pauschaler wäre es allerdings, in dieser Debatte bloß der platonischen Stellung zu folgen und eine gewalttätige Fiktion aufgrund einer jahrtausendealten Position zu verurteilen.
Fiktion verstehen
Das Problem bei „Squid Game“ liegt weniger in der Gewaltverherrlichung der Serie (eine Kritik, die ungerechtfertigt ist) als an dem Fakt, dass viele der Kids, die die Spiele der Serie nachstellen, noch nicht oder vielleicht auch, wenn man es kulturpessimistisch auslegt, immer weniger über die Fähigkeit verfügen, zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu differenzieren. Denn dies verläuft über kognitive Mechanismen, die zwar, wie es Jean-Marie Schaeffer in seinem Essai „Pourquoi la fiction?“ eindrucksvoll zeigt, sehr wohl jedes Kleinkind beherrschen kann – die Chancen, dass man den Unterschied macht, werden aber größer, je mehr man der Fiktion in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen ausgesetzt ist. Wer mehr Bücher liest, Filme schaut, Serien kuckt, ins Theater geht, erlernt frühzeitig, wie unsere Fähigkeit, die menschliche Vorstellungskraft in strukturierten Erzählungen zu verdichten, funktioniert, und versteht auch schneller, wofür fiktionale Gewalt stehen kann – und wofür sie keinerlei steht.
Denn weitaus wesentlicher ist als die nervenkitzelnde Spannung und die brutalen Gewaltausbrüche sind in „Squid Game“ folgende Aspekte: die nicht wahnsinnig subtile, dafür aber bildgewaltig verdeutlichte Sozialkritik (diese Menschen laufen in den Tod, weil die Gesellschaft ihnen keine andere Wahl mehr lässt); die vermeintliche Abschaffung im Spiel des sozialen Darwinismus (gesellschaftliche Hierarchien werden zugunsten vom Zufallsprinzip einerseits, einem klassischen biologischen Darwinismus andererseits ausgetauscht – ob dies die etwas misogyne Behandlung des weiblichen Geschlechts legitimiert, bleibt dennoch fragwürdig); das Erlernen von Selbstkenntnis und Menschlichkeit in einer Extremsituation: So wie der Mensch bei André Malraux oder Albert Camus in solch extremen Momenten erfährt, wie (wenig) heldenhaft er eigentlich ist, so zeigt „Squid Game“, dass seine in der ersten Episode ziemlich selbstbezogen handelnde Hauptfigur durchaus fähig ist, selbstlos und vor allem menschlich zu handeln.
Dies sind Werte und Gesellschaftsanalysen, die „Squid Game“ beinhaltet und die es ausmachen. Wenn es eh zu spät ist, Kindern und Jugendlichen zu verbieten, sich die Serie anzuschauen – dann wäre es vielleicht an der Zeit, all jene, die die Serie gesehen haben und über die kognitiven Kompetenzen verfügen, dies zu begreifen, auf einen philosophischen Ausflug über Fiktion, Wirklichkeit und Mimesis sowie einen soziologischen Exkurs über sozialen Darwinismus und die Entwicklung des späten Kapitalismus – am Beispiel von Südkorea – mitzunehmen. Nur so bekommt die Gewalt in der Serie den Stellenwert, den sie eigentlich hat: Sie ist nicht Nebensache, sondern kondensiert eine Kritik am neoliberalen System, auf die sie auf verstörende Art verweist.
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Wie , wie schlimm??? Wenn Eltern ihre Kinder dass schauen lassen dann gute Nacht, ganz ehrlich dann muss man Saublöd sein.Für Erwachsene ein Zeigefinger auf die Gesellschaft. Gottseidank kennen die Eltern nicht I saw the devil oder Oldboy auch Koreanisch und viel schlimmer
Wie ist das wahre Leben. man wird am hellichten Tag wegen 3.-€ oder Klapphandy halbtot geschlagen. Aber nein, wir haben kein Problem mit Kriminalität.
Uns wurde derselbe Quatsch um die Ohren geschlagen bei ‚Clockwork Orange‘ vor 50 Jahren, und vor 250 Jahren wurde vor den ‚Leiden des jungen Werthers‘ gewarnt.